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Sammlung: Russische Märchen

Von den zwölf Monaten/01

1943, S. Marschak

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Es war eine Mutter, und die hatte zwei Töchter; die eine war ihre eigene, die andere ihre Stieftochter. Die eigene Tochter hatte sie sehr lieb, die Stieftochter konnte sie nicht einmal ansehen, bloß darum, weil Maruschka schöner war, als Helena. Die gute Maruschka wusste von ihrer Schönheit nichts; sie konnte sich gar nicht erklären, warum die Mutter so böse sei, so oft sie sie ansehe. Alle Arbeit musste sie selbst verrichten: die Stube aufräumen, kochen, waschen, nähen, spinnen, weben, Gras zutragen und die Kuh allein besorgen. Helena putzte sich nur und ging müßig. Aber Maruschka arbeitete gern, war geduldig, und ertrug das Schelten, das Fluchen der Schwester und Mutter, wie ein Lamm. Allein dies half nichts, sie wurden von Tag zu Tag schlimmer, und zwar bloß darum, weil Maruschka je länger, desto schöner, Helena desto garstiger ward. Die Mutter dachte: »Wozu sollt' ich die schöne Stieftochter im Hause leiden, wenn meine eigne Tochter nicht auch so ist? Die Bursche werden auf Brautschau kommen Maruschka wird ihnen gefallen, Helena werden sie nicht haben wollen! « Von diesem Augenblicke an suchten sie der armen Maruschka loszuwerden; sie quälten sie mit Hunger, sie schlugen sie, doch sie ertrug geduldig und ward von Tag zu Tag schöner. Sie ersannen Qualen, wie sie braven Menschen gar nicht in den Sinn gekommen wären.
Eines Tages - es war in der Mitte des Eismonats - wollte Helena Veilchen haben. »Geh', Maruschka, bring' mir aus dem Walde einen Veilchenstrauß! Ich will ihn hinter den Gürtel stecken und an ihn riechen! « befahl sie der Schwester. »Ach Gott, liebe Schwester, was fällt Dir bei! Hab' nie gehört dass unter dem Schnee Veilchen wüchsen, « versetzte das arme Mädchen. »Du nichtsnutziges Ding, Du Kröte, Du widersprichst, wenn ich befehle? Gleich wirst Du in den Wald gehen, und bringst Du keine Veilchen, so schlag' ich Dich tot! « drohte Helena. Die Stiefmutter fasste Maruschka, stieß sie zur Tür hinaus, und Schloss diese hinter ihr. Das Mädchen ging bitter weinend in den Wald. Der Schnee lag hoch, nirgend war eine Fußstapfe. Die Arme irrte, irrte lange. Hunger plagte sie. Kälte schüttelte sie; sie bat Gott, er möchte sie lieber aus der Welt nehmen. Da gewahrt sie in der Ferne ein Licht. Sie geht dem Glanze nach und kommt auf den Gipfel eines Berges. Auf dem Gipfel brannte ein großes Feuer, um das Feuer lagen zwölf Steine, auf den Steinen saßen zwölf Männer. Drei waren graubärtig, drei waren jünger, drei waren noch jünger, und die drei jüngsten waren die schönsten. Sie redeten nichts, sie blickten still in das Feuer. Die zwölf Männer waren die zwölf Monate. Der Eismonat saß obenan; der hatte Haare und Bart weiß wie Schnee. In der Hand hielt er einen Stab, Maruschka erschrak, und blieb eine Weile verwundert stehen; dann aber fasste sie Muth, trat näher und bat: »Liebe Leute, erlaubt mir, dass ich mich am Feuer Wärme, Kälte schüttelt mich!« Der Eismonat nickte mit dem Haupte und fragte sie: »Weshalb bist Du hergekommen, Mädchen? Was suchst Du hier? « - »Ich suche Veilchen, « antwortete Maruschka. - »Es ist nicht an der Zeit, Veilchen zu suchen, wenn Schnee liegt, « sagte der Eismonat. - »Ich weiß wohl, « entgegnete Maruschka traurig, »allein Schwester Helena und die Stiefmutter haben mir befohlen, Veilchen aus dem Walde zu bringen; bring' ich sie nicht, so schlagen sie mich tot. Bitte schön, Ihr Hirten, sagt mir, wo ich deren finde? « Da erhob sich der Eismonat, schritt zu dem jüngsten Monat, gab ihm den Stab in die Hand, und sprach: »Bruder März, setz' Dich obenan! « Der Monat März setzte sich obenan und schwang den Stab über dem Feuer. In dem Augenblicke loderte das Feuer höher, der Schnee begann zu tauen, Bäume trieben Knospen, unter den Buchen grünte Gras, in dem Grase keimten bunte Blumen und es war Frühling. Unter Gesträuch verborgen blühten Veilchen, und eh' sich Maruschka dessen versah, gab es ihrer so viele, als ob wer ein blaues Tuch ausgebreitet hätte. »Schnell, Maruschka, pflücke! « gebot der März. Maruschka pflückte freudig, bis sie einen großen Strauß beisammen hatte. Dann dankte sie den Monaten und eilte froh nach Hause. Es wunderte sich Helena, es wunderte sich die Stiefmutter, als sie Maruschka sahen, wie sie einen Veilchenstrauß trug; sie gingen, ihr die Tür zu öffnen, und der Duft der Veilchen ergoss sich durch die ganze Hütte. »Wo hast Du sie gepflückt? « fragte Helena störrig. »Hoch auf dem Berge, dort wuchsen ihrer unter Gesträuch in Menge,« erwiderte Maruschka. Helena nahm die Veilchen, steckte sie hinter den Gürtel, roch an sie, und ließ die Mutter riechen; zur Schwester sagte sie nicht einmal: »Riech auch! «

  • Text-Herkunft: Gemeinfrei
  • Text-ID 873
  • Hinzugefügt am 18. Jul 2012 - 08:51 Uhr

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Verwandte Suchbegriffe

Zwei, Töchter, Stiefmutter, Wünsche, Winter, Veilchen.

Einsteller: soja

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1 Kommentar

  1. sophie-clark

    Davon habe ich auch mal einen Film gesehen.Genauer gesagt zweimal,in einer japanischen und in einer russischen Produktion.Der russische war eindeutig besser gemacht

    07. Jan 2015 - 11:04 Uhr

 

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