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Sammlung: Hans Christian Andersen 23

Der Stein des Weisen Teil 02

1805-1875, Hans Christian Andersen

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Der Baum der Sonne war ein prächtiger Baum, wie wir noch keinen gesehen haben und auch du keinen zu sehen bekommen wirst. Die Krone erstreckte sich mehrere Meilen im Umkreis, sie war eigentlich ein ganzer Wald. Jeder ihrer kleinsten Zweige war wieder ein Baum. Es waren Palmen, Buchen, Pinien, Platanen. Ja alle Baumarten, die man auf der Welt finden konnte, schossen hier, wie kleine Zweige, aus den großen Zweigen hervor, und diese glichen mit ihren Krümmungen und Auswüchsen Tälern und Höhen. Sie waren mit einem samtweichen Grün bekleidet und mit Blüten übersät. Jeder Zweig glich einer blumigen Wiese oder einem lieblichen Garten. Die Sonne strahlte in vollem Glanz herab, es war ja der Baum der Sonne, und Vögel aus aller Welt versammelten sich hier, aus den fernen Wäldern Amerikas, aus den Rosengärten von Damaskus und aus den Waldwildnissen des inneren Afrika. Die Eisvögel, Störche und Schwalben kamen natürlich auch. Aber die Vögel waren nicht die einzigen lebenden Geschöpfe, die hierher kamen. Hirsche, Eichhörnchen, Antilopen und hunderte anderer Tiere, durch Schnelligkeit und Schönheit ausgezeichnet, waren hier zu Hause. Ein großer duftender Garten war ja die Krone des Baumes, und inmitten, wo die allerstärksten Zweige sich wie grüne Berge erstreckten, lag ein Schloss aus Kristall, mit Aussicht über alle Länder der Welt. Jeder Turm erhob sich wie eine Lilie, man konnte in dem Stengel hinaufsteigen, denn dort war eine Treppe. Nun wirst du verstehen können, dass man auf die Blätter hinaustreten konnte, die Altanen glichen, und ganz oben in der Blüte war ein runder, glänzender Festsaal, der kein anderes Dach als den blauen Himmel mit Sonne und Sternen hatte. Ebenso schön, nur in anderer Weise, war es in den unteren weiten Sälen des Schlosses. Rings an den Wänden spiegelte sich die ganze Welt ab. Man konnte alles sehen, was in ihr geschah, so dass man keine Zeitungen zu lesen brauchte, und die gab es hier auch gar nicht. Alles war in lebenden Bildern zu sehen, hätte man es nur sehen wollen oder sehen mögen. Aber zu viel ist zu viel, selbst für den weisesten Mann, und hier wohnte der weiseste Mann. Sein Name ist so schwer auszusprechen, dass du es nicht kannst, und deshalb brauchst du ihn auch nicht zu kennen. Er wusste alles, was ein Mensch wissen kann und jemals wissen wird. Er kannte jede Erfindung, die gemacht war und gemacht werden sollte, aber auch nicht mehr, denn alles hat seine Grenze. Der weise König Salomo war nur halb so klug und war doch sehr klug. Der weise Mann herrschte über die Naturkräfte, über mächtige Geister, ja der Tod selbst musste ihm jeden Morgen Nachricht bringen und die Liste derjenigen vorlegen, die an dem Tage sterben sollten. Aber auch der König Salomo musste sterben, und das war der Gedanke, der den Forschergeist, den mächtigen Herrn im Schloss des Sonnenbaums mit lebhafter Unruhe erfüllte. Auch er sollte einst sterben, wie hoch er auch in der Weisheit über den Menschen stand; das wusste er. Seine Kinder sollten sterben, wie die Blätter des Waldes sollten sie niedersinken und Staub werden. Er sah die Menschengeschlechter wie das Laub der Bäume vergehen und neue an ihre Stelle treten, aber die Blätter, die niederfielen, wuchsen niemals wieder, sie wurden zu Staub, zu anderen Pflanzenteilen. Was geschah mit den Menschen, wenn der Engel des Todes kam? Was war der Tod? Der Körper löste sich auf, und die Seele, ja, was war mit ihr? Wo blieb sie? Wohin ging sie? »Zum ewigen Leben«, sagte tröstend die Religion. Aber wie war der Übergang? Wie lebt man? Wo lebt man? "In den Himmel", sagten die Frommen, »aufwärts gehen wir.« »Aufwärts«, wiederholte der Weise und sah gegen die Sonne und die Sterne. »Aufwärts«, und er sah aus der Kugelgestalt der Erde, dass oben und unten ein und dasselbe ist, je nach dem Ort, den man auf der schwebenden Kugel einnimmt, und stieg er so hoch, wie die höchsten Berge der Erde ihre Gipfel erheben, so wurde die Luft, die wir klar und durchsichtig »den reinen Himmel« nennen, zur kohlenschwarzen Finsternis, gleich einem ausgespannten Tuch, und die Sonne glühte ohne Strahlen und unsere Erde lag in einem orangegelben Nebel eingehüllt. Begrenzt ist das leibliche Auge, begrenzt auch das geistige Auge! Wie gering ist unser Wissen! Selbst der Weiseste weiß nur wenig von dem, was uns das Wichtigste erscheint.

 

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  • Hinzugefügt am 11. Mai 2022 - 07:13 Uhr

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Einsteller: sophie-clark

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