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Sammlung: Wilhelm Blumenhagen

Der Harz Teil 01

1781-1839, Wilhelm Blumenhagen


 

 

Einleitung

Niemand vermag die Tatsache zu leugnen, daß in den meisten Menschen eine wunderbare, unauslöschliche Sehnsucht nach den Höhen und Bergen wohnt und um Erfüllung ringt. Schon der Knabe blickt mit Verlangen aus den Ebenen der Heimat nach den blauen, grotesk gestalteten Massen, die seinen Horizont begrenzen, und es scheint ihm gewiß, daß sie etwas Geheimes und Großartiges verbergen müssen. Des Jünglings Phantasie strebt hinauf und darüber hinweg; sie sind ihm die kolossalen Pfeilertore eines fremden Reichs, und eine andere, buntere Welt muß dahinter liegen. Der Wohlhabende – sucht er ein Asyl für sein Alter, in dem er behaglich genießen möchte, was sein Fleiß erwarb, wo er auszuruhen trachtet von den Mühseligkeiten der Kampftage und der schweren Pilgerfahrt, die nur wenigen Auserwählten fehlen – baut sich sein Landhaus am Bergesrand oder auf bewaldeter Höhe; der von Sorgen gedrückte Geschäftsmann, der im Bücherstaub keuchende Gelehrte, der bemitleidenswerte Zahlenmaler und Ziffernzeichner – wohin flüchten sie, wenn eine Festwoche ihre Ketten lockert? Wohin anders als in die Berge? Die Klosterbrüder und ihre Führer, Bischöfe und Äbte, kundige Autoritäten in Sachen des Geschmacks, stellten ihre Klöster, ihre Residenzen meist auf Hügel und Berge, und auf Felskuppen sehen wir die Überbleibsel der Stammeshäuser und Burgen alter Rittergeschlechter, deren Wahl freilich zuweilen eine weniger gemütliche Nebenabsicht bestimmt haben möchte. –

Worin sollen wir aber die Ursache dieses so allgemein verbreiteten Triebes suchen, wo nach ihren Quellen graben? – Ist es der Höhensinn, dessen Organ jener tief denkende Württemberger, der geniale Gall, auf der Scheitelwölbung des tierischen Schädels ausfand und ihm dicht neben der Beharrlichkeit seinen Platz anwies? Der Höhensinn, welcher die schlanke und scheue Gemse, den wehrhaften Steinbock zum Erklettern der steilsten Gletscher und gefährlichsten Firne anspornt? Oder ist es ein Stück der moralischen Richtung dieses Höhensinns, die den Stolz und den Hochmut gebiert, den schönen Drang des Menschen nach Vervollkommnung, nach dem Besseren wach erhält, Helden und Tyrannen, Weise und Schwärmer, Wohltäter der Menschheit und jene verächtlichen Götzendiener des Goldes erschuf, jene faulen Drohnen des menschlichen Bienenstocks, deren einer Fuß sich auf den ergeizten oder ererbten Geldsack stützt, indes der andere das Elend und die bittende Armut in ihren Schlamm zurückstößt? Die kindische Eitelkeit bläht sich auf dem Berggipfel, Millionen wimmeln unter ihr gleich Ameisenhaufen, zu ihren Füßen dehnt sich unbegrenzt das Reich Gottes, sie verwechselt sich mit dem Fels, auf dem sie steht, und weil ihn der Schöpfer erhob über alles, ist auch sie es. –

Einen anderen, edleren Grund könnten wir in einem Gefühl suchen, das wir zu Recht das heiligste nennen, das wir zum Glück der Welt als das allgemeinste erkennen, dessen Keim der Wilde in den Urwäldern und auf den Steppen wie der orientalische Satrap* auf seinen Samtpolstern nimmer in seiner Brust gänzlich zu ersticken oder auszurotten vermag: Das Gefühl der Religiosität, das Gefühl der Abhängigkeit von einer höheren Macht, der Notwendigkeit des Vertrauens zu einem höheren Schirmherrn. Die Urvölker setzten ihre Opfersteine auf Berggipfel, ihren Altar auf eine Felskuppe; Moses sprach mit dem Herrn auf Sinai; auf der zusammengestürzten Granitpyramide des Mons bructerus feierten altgermanische Stämme ihre Frühlingsfeier, der Ostera flammenbeleuchtete Orgien; Jupiter thronte auf dem Kapitol; und warum der Mensch dort gerade inbrünstiger zu feiern, zu beten, leichter Erhörung zu finden wähnt, spricht ein Dichter der Alpenrosen wahrhaft in den zwei Strophen aus:

Es ist so heilig, heilig da; 
Hier oben ist der Herr so nah!

Außerdem hört man jedoch noch ein paar andere Ursachen der genannten Sehnsucht anführen, und zwar zuerst ein Stück der Erbsünde, die der schwache Vater Adam allen seinen Kindern vermachte, jene Sucht nach Veränderung, die das, was sie besitzt, überall dem nachsetzt, was andere haben, und nimmer zufrieden, das Eigene gegen Fremdes zu tauschen begehrt – ein üppiger Quell des Handels und Völkerverkehrs, aber andererseits einer der ausgesäten Giftzähne des Kadmus, aus dem mehr Unglück in der Menschheit erwuchs, als man meint; und zweitens einen natürlichen Instinkt, der mit dem mächtigsten Triebrad in der Schöpfung, mit der Selbsterhaltung, in nächster Verwandtschaft steht. Wer könnte leugnen, daß uns auf den Bergeshöhen wie mit kühlen, jugendlichen Nymphenarmen ein eigenes Wohlbehagen umfängt? Mit Wollust schlürft die tiefatmende Brust die frische, erquickende Luft der Höhen ein; der üppige Wald in seiner Jungfräulichkeit haucht jedem neuen Sonnenlicht Ströme von Lebensodem, das eigentliche Pabulum vitae, entgegen; alle Sinnesorgane öffnen sich weiter, denn ungestört empfangen sie die natürlichen Reize, die endlose Aussicht für das Auge, die würzigen Düfte der köstlichen Kräuter, die reinen Klänge, die Posaunentöne des Waldlebens für Geruch und Gehör; der Qualm der beengenden Städte, der mephitische Dunst der Dörfer, das Gift der stehenden Wässer, die stinkende Tierschlacke der vollgepfropften Salons bleiben unten und steigen nicht hinauf zu den grünen Tempeln der Gesundheit, aus denen ein Heer junger Sprudelquellen, unbefleckt von verschmutzender Menschenhand, uns entgegentanzt, einladend zu Labetrunk und verjüngendem Bad; wo die Glieder sich freier regen, wo der Geist freier denkt und erschafft im Gefühl der Erlösung aus den Wänden und Kerkern und der quetschenden Zwangsjacke, mit denen der närrische Mensch sich selbst und seine Nachbarn umstellt und belastet hat. Alle Bergvölker sind gesünder, kraftvoller, rascher und kühner, tätiger und ausdauernder, und bei ihnen findet sich einzig das Heimweh jenes unheilbare Übel, das man nicht mit der Vaterlandsliebe verwechseln darf, das den Ausgestoßenen verzehrt und aufreibt, wenn ihn die Fremde auch mit Überfluß und Annehmlichkeiten überschüttete, und das nicht selten den Leidenden zum Selbstmord getrieben hat. – Oh, wer doch auch ein solches Heimweh mit zu empfinden vermöchte! –

Wir überlassen es dem geehrten Leser, von den angeführten Ursachen der Sehnsucht nach den Bergen sich diejenige auszuwählen, die ihn am meisten anspricht, halten uns jedoch fest an die bestehende Erfahrung, und angestachelt von dem unbezwinglichen Triebe in der eigenen Brust, rufen wir jeden, der das gleiche empfindet, auf, sich uns zu einer Bergfahrt anzuschließen, die uns lindernde Erfüllung verspricht. Und warum ferne suchen, was wir so nahe haben? – Herrliches Harzgebirge, du Krone der niedersächsischen Gaue, dir soll unsere Huldigung gelten! Bist du auch weniger gepriesen und besucht als die grandiosen Hochalpen und frostigen Gletscherriesen des Schweizer Landes, weniger besungen als Tirols romantische Kuppen und Firne – du stehst ihnen nicht nach an Naturschönheiten und großartigen Schöpfungen, obgleich vor wenigen Jahrzehnten mancher Südländer dich und das Land, das da du beherrschst, als ein unbekanntes Land, als eine Art Sibirien zu betrachten gewohnt war, bis die großen, kriegerischen Völkerzüge des neunzehnten Säkulums ihm seinen Irrtum aufdeckten! –

Und euch alle, die ihr nicht verkümmert im hektischen Alltagsleben: wenn es erlaubt ist, einige Wochen hindurch sein Eigen zu sein, wer durch das tote, stereotype Brotgeschäft noch nicht ganz zur Mumie ausdörrte oder dem das Schicksal ein Familienkreuz auf den Nacken warf, ihr alle seid eingeladen; schließt euch unserer Karawane an, greift zur leichten Bluse, zum tüchtigen Dornstock und zum bescheidenen Scholarenränzel und folgt frisch und froh dem Führer, der kundig durch die lieben, oft besuchten Gegenden euch voranschreiten und ihre Herrlichkeiten euch zu entdecken versuchen will.

Eine kurze, übersichtliche Einleitung halten wir unserer etwaigen fremdländischen Reisegefährten wegen nicht für unnütz und überflüssig, doch soll sie nur andeuten, was an anderen, geeigneteren Orten ausführlicher nachzulesen ist. Strom und Gebirge waren früher die natürlichen Grenzmarken der Völkerschaften. Dort, wo die germanischen Stämme der Cherusker und Katten, der Angrarier und Fosen sich berührten, wo jetzt Preußen und Hannover, Braunschweig und Anhalt-Bernburg zusammenstoßen, erhebt sich als Gebirge von höchst eigentümlichem Charakter und welthistorischer Berühmtheit der Harz mit seinem noch von niemand genügend erklärten Namen. Übertrifft ihn auch das Riesengebirge an Höhe, so darf er sich doch messen mit dem Erzgebirge und dem Thüringer Wald; er zeichnet sich als das nördlichste deutsche Gebirge aus. In einer Länge von etwa zwölf bis vierzehn und einer Breite von vier bis fünf Meilen streckt er sich von West nach Ost, doch nicht nach Art anderer deutscher Gebirge in langgezogenen, aneinandergereihten, sich ähnelnden und verwandten Höhen, sondern als ein frei sich erhebender, scharf umrissener Steinkoloß mit einer imposanten Physiognomie, in freier Hoheit fern ausschauend auf das niedere Land und fernher gesehen und rings umkreist von einem Heer geringerer Hügel, einem Riesenkönig ähnlich, den seine Hofhaltung – erzgerüstete Krieger und bunt geschmückte Diener – umsteht, mit abnehmendem Rang und Glanz, zuletzt an den Pforten des Reichs in zwergige Pagen sich verlierend.

Man teilt unser Gebirge in den Oberharz, den Unterharz und den Vorharz. Der Oberharz ist der Kern des Berges, wo das granitartige Urgestein, die Knochen der Erde, zutage tritt und das metallreiche Ganggebirge gleich Muskeln voll lebendig zuckender Nerven sich an dasselbe anlegt; er bildet mit dem berüchtigten Brocken und seinen sieben Bergstädten den nordwestlichen Teil des Gebirges. Hier herrscht ein winterlicheres Klima, rauher weht die Luft, Schnee und Eis liegen hochgehäuft zur Winterszeit und lange Monate hindurch, und der Sommer ist nur kurz, doch seine Gewitter sind desto furchtbarer und gewaltiger. Schon die Waldung – aus hochgewachsenen Tannen und phantastisch sich formenden Fichten bestehend – deutet den nordischen Charakter an, obgleich das Gehölz vielfach von Bruch und Morast unterbrochen wird. Hier wird kein Acker gebaut, nur hie und da trifft man die wohlgepflegte Wiese in geschützten Niederungen, das Magazin für die treffliche Rinderherde, die statt der Streu sich mit Tannennadeln begnügen muß.

Das Volk, das diese Höhen bewohnt, gleicht seiner Heimat; es ist kräftig und rauh, kühn und tätig, unverdrossen und gutmütig, duldsam und mit wenig zufrieden, stolz auf seine Berge und nur auf ihnen glücklich. Alles, was hier lebt und waltet, gehört dem Bergbau an, sei es als eigentlicher Berg- und Hüttenmann oder als Köhler, Holzschläger und Fuhrknecht.

Der Bergbau ist hier die Seele des Lebens, das Zentrum des Getriebes; tausend Jahre hindurch ringt dieses Völkchen mit Lebensgefahr dem widerstrebenden Erdgeist seine edelsten Schätze ab, um die Paläste trägerer Mitbrüder zu schmücken, anderen Genuß und Reichtum zu verschaffen, und bleibt selbst arm und armselig; die blassen Wangen, die starken, scharfen, kalten Gesichtszüge, die straffen, fettlosen, aber kräftigen Muskelformen erzählen von den Mühseligkeiten seiner arbeitsvollen, entbehrungsreichen Tage, welche nahe grenzen an die jener schwarzen Sklaven in den Plantagen der Gewürzinseln und auf den Diamantfeldern, deren blutiger Schweiß gleichfalls für die Üppigkeit und den Luxus vergeudet wird. Aber im Feuerauge des Harzers leuchtet das Gefühl der Freiheit; freiwillig und mit Lust tut er die Arbeit seiner Väter, vor der der verweichlichte Fremde schaudert, und um seinen üppigen Mund lacht eine sarkastische Fröhlichkeit und spricht von seinem gesunden Herzen und seiner munteren Gemütsart.

An dreißigtausend Menschen leben dort oben in solcher Weise auf einer Grundfläche von dreizehn Quadratmeilen – stolz auf ihren Berghauptmann, den sie auch wohl den Harzkönig nennen, der sie nach eigenen Gesetzen regiert; stolz auf ihre Privilegien, auf ihre scharf geschiedene Lebensweise, auf ihre Freiheit von Steuern und Tribut anderer Art, selbst auf ihre Sprache, die gezogen und volltönend, süddeutschen Dialekten gleich, klingt und vielleicht von ihren aus dem Erzgebirge früher eingewanderten und hergerufenen Vätern stammen mag; doch wird die Begeisterung für manche dieser Vorzüge und Auszeichnungen jetzt allmählich in des Harzers Brust erlöschen müssen, da die hannoversche Ständeversammlung und das neue Staatsgrundgesetz auch unser Bergvölkchen von der Gleichstellung aller Landesbewohner, obgleich mit milder Berücksichtigung, nicht ausschließen durfte.

Ein freundlicheres Klima empfängt den Wanderer, sobald er zum Unterharz herabsteigt, zu dem man alles Gebirge zu zählen pflegt, was dem Brocken östlich liegt, und der aus Ganggebirge und Flözgebirge besteht, von ihm aber als Vorharz die äußersten, noch immer hügeligen und bewaldeten Ausläufer und Vorsprünge unterscheidet, durch die das Gebirge allmählich in das flache Land verläuft, gleichsam die Finger und Zehen des Riesen, die er in die Ebene hinausgestreckt hat als Symbol seiner Herrschaft. 

*Titel eines altpersischen Statthalter 

  • Text-Herkunft: Gemeinfrei
  • Text-ID 6244
  • Hinzugefügt am 11. Sep 2014 - 13:36 Uhr

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Verwandte Suchbegriffe

der, harz, wilhelm, blumenhagen, berge

Einsteller: sophie-clark

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1 Kommentar

  1. sophie-clark

    Reisebericht.

    03. Nov 2015 - 19:51 Uhr

 

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