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Sammlung: Theodor Birt 02

Charakterbilder Spätroms und die Enstehung des modernen Europa Teil 01

1853-1933, Theodor Birt


 

 

Einleitung

Die Weltgeschichte arbeitet in der Gegenwart mächtiger als je. Alle Kontinente tragen sich seit dem Weltkrieg mit neuen Zukunftsplänen. Der Erdball selbst will seine Gestalt verändern, und so fühlt jeder Denkende sich wie wohl nie zuvor zu weltgeschichtlichen Betrachtungen getrieben. Krieg oder Frieden? Was ist das Heil? Was ist die Bestimmung der Menschenvölker?

Es gab eine traumhafte Zeit; sie ist noch nicht lange her: da glaubten viele von uns Reichsdeutschen ernstlich an Weltbürgertum, an die ausgleichende Wirkung der Humanität, ein großes Verstehen und Verstandenwerden. Es war so schön! Aus allen Völkern kamen die Ausländer mit friedfertiger Miene in die deutschen Bäder und zu den deutschen Hochschulen gereist, um sich aus der einen Quelle Gesundheit, aus der anderen Bildung zu holen. Es war Trug und Schein; als die Schicksalsstunde gekommen war, warfen alle Völker die Masken ab; der Egoismus lag bloß, und der Neid und Haß griff zu jeder Waffe, bis zur grausamsten, der Aushungerung eines ganzes Volkes.

Dieser Neid aber ist alt, er lebt und wirkt in den Ländern Europas ohne abzusetzen durch die Jahrhunderte. Sehen wir von Ländern, die nie zum alten römischen Reich gehört haben, ab, so hat auch in England und Frankreich, Holland, Spanien, Italien und dem Donauland Österreichs und Rumäniens der Interessengegensatz der Nationen in all den Zeiten zu ständigen Reibungen mit Schlag und Gegenschlag, Erbfolgekriegen, Grenzkriegen, die nicht abreißen, zum Raub an Länderbesitz geführt. Was nützte es, daß die meisten dieser Staaten sich einer gemeinsam ererbten Kultur, der römisch-romanischen, rühmten? So ist es gegangen seit Attilas Zeit, seit der großen Völkerwanderung, die um das Jahr 400 für die heutigen Nationen die Grundlagen schuf. Nicht nur das: urältestes Menschengut ist der Neid; er ist Natur. Nur der Tod bringt ihn zur Ruhe. Das Leben selbst ist der Unfriede: Selbsterhaltung auf Kosten des Nachbarn, der pulsierende Trieb über sich selbst hinaus. Er ist so alt wie der Unterschied der Menschenrassen, die sich bedrängen; sein Schlachtruf schallt uns entgegen schon aus der Zeit Lykurgs und Homers und der Semiramis, schon aus dem Streit Kains und Abels. Was hat Bestand? Alle Grenzen fließen, und das heut Gewordene ist morgen das Gewesene. Und was ist der Friede? ein negativer Begriff; Stillstand der Affekte ist er, ein toter Punkt, der sich umsonst zu verewigen trachtet. So lange die Erde steht, wird nicht aufhören Sommer und Winter, Saat und Ernte, Tag und Nacht, Krieg und Friede, im ewigen Wechsel.

In der Tat, so war es, so lange es Menschen gibt, auch schon in den vorchristlichen Zeiten, bis über gewisse Völkergruppen die großen Weltmonarchien kamen, die nun doch einen Frieden schafften und erzwangen: einen Notfrieden; so vor allem das Römerreich, und von ihm ist hier zu reden. Schon damals haben die Völker, die sich seit Beginn des Mittelalters mit Krieg zerfleischen, zum großen Teil bestanden und zusammengefaßt innerhalb der Grenzen des Römerreiches gelegt. Durch die Zentralgewalt Roms wurden sie entwaffnet und zu einem Völkerbündel zusammengebunden, wie der Packer die widerstrebendsten Dinge in einen Ballen schnürt, bis sie glatt liegen, oder wie einst die Tiere in Noahs Arche, die der Sintflut entronnen waren, sich vertrugen und ihre Mordgier vergaßen. Was unsere Pazifisten heute ersehnen, war erreicht.

 Versöhnung durch Unterjochung, das ist das Geschenk der Weltmonarchie: eine Einfriedigung in doppeltem Sinne. Sie kann nicht im Ernst unser Ideal  sein, aber wir leugnen nicht, daß sie Segen schafft, wenn gütige Despoten walten, die sich als Stellvertreter Gottes fühlen.

Solche Menschenfreunde auf dem Thron sind in der Tat etliche der Cäsaren, Augustus, Titus, Trajan, Hadrian und die Antonine gewesen. Raubgier hatte das Römerreich erzeugt; aber seine Lenker wurden hernach im Geist der Griechen durch philosophische Erziehung die erlesenen Wohltäter der Menschheit. Dies Weltreich der römischen Kaiser begann im Jahre 31 v. Chr. und hat durch seine Existenz den Weltfrieden durch volle zweihundert Jahre gesichert, bis zu Commodus Ende, i. J. 192 n. Chr. Durch zweihundert Jahre waren, so weit es reichte, alle politischen Gegensätze aus der Welt geschafft. Es war ein Wunder, ein einziges Phänomen der Weltgeschichte.

Nichts ist begreiflicher als der Sieg der internationalen Gesinnung, den damals diese Welteinheit erzeugte; nichts begreiflicher, als daß ein Weltbürgertum, ein reines Menschentum entstand, wie keine spätere Zeit es wieder brachte, und daß so auch das Auftreten Jesu im stillen Galiläa und der rasche Eroberungszug seiner Lehre durch alle Länder möglich wurde. Gleichwohl war das moderne Europa damals schon im Entstehen; es lag noch friedlich schlummernd als Säugling in der Wiege des Römerreiches. Meine Aufgabe soll sein, zu zeigen, wie es wach wurde, wie die Wiege zerbrach und das moderne Europa sich endlich auf seine Füße stellte; in Chlodwigs, des Merowingers Zeit, ist das endgültig geschehen. Die Germanen waren es, die die Wiege zerbrachen. Das Weltbürgertum war damit zu Ende. Der Friede war nur ein Kindertraum der noch schlummernden europäischen Völker gewesen.

 Was war in der Zeit Christi die »Welt«? Wenn wir das Wort gebrauchen, müssen wir von unserem modernen Größenbegriff allerdings völlig absehen. Schon damals floß der Amazonasstrom, rauschte der Niagara, zog der Kondor seine Kreise über den Kordilleren, blühten Japans Gebirgswiesen im buntesten Märchenflor, jagte der Papua das Känguru in den Steppen Australiens. Aber man wußte es nicht. Alles das lag jenseits der »Welt«. Tee, Kaffee und Tabak waren den Griechen und Römern so unbekannt wie die Länder, die sie produzieren. Das schmächtige Mittelmeer war der Mittelpunkt dessen, was man damals die Welt, die Ökumene, nannte. Unsere Welt ist nur ein <font face="Courier">Staubkorn</font> im All, sagt uns ein Römer . Nur Europa kannte man und von Asien und Afrika nur die Europa zugekehrten Teil. Der Ganges stand auf den antiken Weltkarten am äußersten Ostrand des Bildes; durch die Kriegszüge Alexanders des Großen allein wußte man auch vom Himalaya zu reden und von den Riesenschlangen, die es dort gab. Deutschland erschien als leere Fläche mit Völkernamen unsicheren Sitzes, Rußland und Sarmatien ganz leer, Sibirien kaum geahnt. Einen echten Chinesen hat man in Rom wohl nie zu Gesicht bekommen. Von der Insel Ceylon kam wohl einmal eine Gesandtschaft an den Kaiserhof; übrigens war Indien ein Fabelreich, wo angeblich einbeinige Menschen und Menschen, die keine Nase hatten, lebten . Die Erde wurde als Vollkugel gedacht; aber der unermeßliche Ozean verschlang damals noch dreiviertel ihrer gewölbten Oberfläche. Man träumte von »Antipoden*«, aber man wußte nichts von ihnen.

*Damals glaubte man,die Menschen auf gegenüberliegenden Seite des Erdballs hätte ihre Füße über dem Kopf und würden auf Händen gehen. 

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  • Hinzugefügt am 10. Sep 2014 - 15:48 Uhr

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Einsteller: sophie-clark

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