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Sammlung: Leonid Andrejew 02

Der Gouverneur Teil 01

1871-1919, Leonid Nikolajewitsch Andrejew


 

I.

Fünfzehn Tage waren bereits seit dem Ereignis vergangen, und er dachte immer noch daran – als wenn die Zeit selbst ihre Macht über Gedächtnis und Dinge verloren hätte oder gänzlich stehen geblieben wäre, gleich einer verdorbenen Uhr. Worauf er auch seine Gedanken lenken mochte, ob es noch so fremd, noch so fernliegend war – schon nach wenigen Minuten stand das verschüchterte Denken wieder vor dem Ereignis und rannte machtlos dagegen an wie gegen eine hohe, starre, schweigsame Gefängnismauer. Und was für seltsame Wege schlug dieses Denken ein: Er erinnert sich zum Beispiel der italienischen Reise, die er einmal gemacht, eine Reise voll Sonnenschein, Jugend und Lieder. Er stellt sich irgend einen italienischen Bettler vor – und sogleich taucht vor ihm die Arbeitermenge auf, die Gewehrsalven, der Pulvergeruch, das Blut. Oder ein Parfümduft steigt ihm in die Nase, und sofort fällt ihm auch sein Taschentuch ein, das gleichfalls parfümiert war, und mit dem er das Zeichen zum Schießen gegeben hatte. In der ersten Zeit waren diese Zusammenhänge noch logisch und wohl begreiflich und darum auch nicht weiter beunruhigend, wenn auch immerhin lästig; bald aber fügte es sich so, daß ihn alles an das Ereignis erinnerte – ganz plötzlich, ganz zur Unzeit, und darum ganz besonders schmerzlich, wie ein Schlag, der hinter einer Ecke hervorgeführt wird. Er lacht auf, und sogleich ist es ihm, als würde er von der Seite her sein Generalslachen vernehmen und plötzlich mit peinigender Deutlichkeit irgend einen der Getöteten erblicken – obwohl er damals gar nicht daran dachte zu lachen, und überhaupt niemand lachte. Oder er hört das Zwitschern der Schwalben am Abendhimmel, er sieht einen Stuhl, einen ganz gewöhnlichen Stuhl aus Eichenholz, er streckt die Hand nach dem Brot aus, alles ruft ihm ein und dasselbe unverlöschliche Bild ins Gedächtnis: Das Schwenken des weißen Taschentuches, die Schüsse, das Blut. Als wenn er in einem Zimmer mit tausend Türen lebte, und welche er davon auch zu öffnen versuchte – hinter jeder tritt ihm ein und dasselbe unbewegliche starre Bild entgegen: Das Schwenken des weißen Taschentuchs, die Salven, das Blut.


  • Text-Herkunft: Gemeinfrei
  • Text-ID 3485
  • Hinzugefügt am 20. Jan 2014 - 21:31 Uhr

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Verwandte Suchbegriffe

der, gouverneur, leonid, nikolajewitsch, andrejew, taschentuch

Einsteller: sophie-clark

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2 Kommentare

  1. sophie-clark

    Ein Gouverneur verliert während eines Aufstands die Nerven und läßt auf die Leute schießen.

    03. Nov 2015 - 19:31 Uhr

  2. sophie-clark

    Im nächsten Teil:Der Gouverneur wartet auf den Beamten

    16. Dez 2015 - 18:29 Uhr

 

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