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Sammlung: Claude Anet
Russische Frauen Teil 01
1868-1931, Claude Anet
Frauen und Liebe in Rußland
Stendhal wäre von Rußland, wenn er es gekannt hätte, begeistert gewesen. Dort hätte er nirgends jene alle Gefühle verdrängende Eitelkeit angetroffen, die er in Europa so tiefst verabscheute. Doch eine Moral in Liebesdingen hätte er jenseits der Weichsel gefunden, wie sie in keinem anderen Land erreicht wird – eine gewisse Aufrichtigkeit und Unvoreingenommenheit in allen Gefühlen, ohne jede Trübung durch konventionelle Regeln, einen entschlossenen Willen, jede Liebesangelegenheit für sich allein, ohne Rücksicht auf Überlieferung und Gepflogenheit und vor allem ohne Rücksicht auf die Meinung der Umwelt zu entscheiden. Wirklich findet man in Rußland eine vollkommene Verachtung der »öffentlichen Meinung« – ja, da ich dies niederschreibe, bin ich immer noch allzusehr im Banne unserer westlichen Anschauungen, denn für einen Russen, der liebt, gibt es einfach gar keine andere Meinung, als sein eigenes Gefühl und deshalb kann er sie auch nicht einmal verachten. Jeder Liebeskonflikt ist bloß ein Drama zwischen zwei oder drei Personen, der antike Chor, der in unserer westeuropäischen Gesellschaft niemals von der Szene weicht, hat in der russischen Tragödie keine Verwendung.
- Text-Herkunft: Gemeinfrei
- Text-ID 3509
- Hinzugefügt am 21. Jan 2014 - 17:32 Uhr
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