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Theodor Birt /Das Opfer Teil 01

Sammlung: Theodor Birt

Das Opfer Teil 01

1852-1933, Theodor Birt

Es hatte geregnet. Der Morgen war trübe. Wie silbern rieselte der Wind durch die jungen Weidenzweige am Ufer, und die Birkenkronen zitterten in beständigem Erschrecken. Es war ein stoßender Wind. Von den Obstbäumen stob ein weißer Blütenregen und wirbelte weithin über Fluß und Wiese. Wie lieblich, aber wie unstät! und wie vergänglich ist die Jugend, auch die Jugend des Jahres, der junge Lenz!

In den Städten, da kribbelt und wirbelt das Straßenleben von früh an, wie im Ameisenberg. Im Dorf ist es Vormittags still wie im leeren Taubenschlag; denn jeder geht draußen seinem Werk nach; so auch im Wiesendorf , von dem ich reden will, das, lang hingestreckt und mit seinem hübschen Kirchturm ein Schmuck des Landes, an das ansteigende Ufer der Lahn sich lehnt. Nur ein ältliches, bartloses Männchen stieß in das verbogene Blashorn, und der Mißklang ging wie ein stöhnendes Signal melancholisch den Fluß entlang. Die Gänse des Dorfs schnatterten zusammen unter seiner Obhut und ästen im Gras und watschelten in's seichte Wasser, bis sie auf einmal aufschrieen und mit den Flügeln schlugen. Es war ein großes Ereignis: sie hatten beim Wehr, wo der Mühlgraben begann, tiefes Wasser gefunden. Die Enten hatten das längst entdeckt, die eitel die fette Brust aus dem Wasser hoben und sich mit der breiten Schaufel ihres Schnabels die glitzernden Federn putzten. An der Flußwiese entlang lief die Chaussee. Da spielten die Kinder, rekelten sich an den Zäunen und wälzten sich jauchzend, die Beine hoch, im Sand, den sie mit ihren kleinen Händen griffen.

So ist es. Kinder können jauchzen; auch die, die schon zur Dorfschule müssen, sind noch so sorgenlos; sorgenlos auch der Bursch und das Mädel, die im Garten oder im hängenden Feld droben Arbeit tun. Sie gucken oft auf, und wenn ein Fremder – wie ich, der ich dies erzähle – durch's Dorf pilgert, grinsen sie mit trägem Behagen sich an, als dächten sie: Was will der hier? Hat er nichts zu sorgen und ist doch schon so alt?

Ja, das Alter und die Sorge! Es ist, als wären die Zwei unzertrennlich. Das Gesetz gilt seit Ewigkeit. Grämlich gebückt stapft der alte Ackersmann hinter dem Pfluge durch die Erdschollen. Wie lang soll er es noch so machen, wie er es schon durch fünfzig Sommer getan? und die Weiber verwittern früh, und der Glanz in ihren Augen ist so stumpf und erloschen, als läge alles Wünschen und Hoffen auf gute Tage weit hinter ihnen. Sie haben Glück und Hoffnung längst an Kinder und Enkel weitergegeben. Auf der steilen Treppe am Kirchhof kauert der Tobias tagaus, tagein, die Hand auf der Krücke, mit der Ziege, die er am Strick hält, und dreht den wackelnden alten Kopf wie ein Automat langsam nach rechts und links, da er sorgfältig hinter jedem dreinschaut; denn er kennt die Dorfleute alle und denkt: Niemand weiß, was kommt, und das Unglück lauert hinter jedem Zaune. Wer ist der nächste, den es packt?

Am Mühlgraben beim Wehr, im Halblicht unter den Erlen, da knieen ein paar Frauen und Mägde auf den Holzstegen und spülen Wäsche. »Das war eine feine Kirmes gestern«, ging ihr Geschwätz; »und mit dem Fritz ist es nun auch sicher. Der Fritz Wigand, nun freilich, so ein Bursche! dem mußte es schon glücken. In der Kanonieruniform, die Reitgerte in der Hand, so kam er auf Urlaub in's Dorf zurück, so hat ihn die Lene wiedergesehn. Und er ging ja auch früher schon immer mit der Lene, und gestern, spät...«

Hier brach die Rede ab. Es war die schwarze Grete, die so schwatzte, eine handfeste schwere Person mit groben Zügen und kahler breiter Stirn, um die ein spärliches, dünnes Zöpfchen wie ein Rattenschwanz taumelte. Aber sie sprach in Wirklichkeit nie, sie schrie immer nur, als verhandelte sie mit ihren Kühen im Kuhstall oder müßte den Henner, ihren Mann, das dumme Tier, aus dem Schlaf rufen.

Seitab, hinter dem breiten Weidenbaum, kniete die Marie am Wasser, ihre Nachbarin. Die sagte nichts, sah nicht auf und schien auch nicht zuzuhören. Da stellte sich die schwarze Grete hinter ihrem nassen Wäschehaufen aufrecht hin, die Hände auf den dicken Hüften, daß die Lunge in der breiten Brust sich dehnte, und schrie: »Ja, ja! der Fritz! der weiß, was recht ist. Aber der Hans? der Hans? wo bleibt der Hans?«

Die Frau Marie sah trotzdem nicht auf. Sie tat ihr den Gefallen nicht. Wie taub starrte sie in das Wasser hinab. Ihre Hände ruhten: eine Frau von kaum mehr als dreißig Jahren, aber schmächtig, blaß und früh gealtert; denn wo die Sorge ist, ist keine Jugend; Rock und Mieder verschlissen und abgetragen, die Hände so mager und schmal. Wie trauernd senkte der Weidenbaum seine weichen Zweige über sie, wie über eine Mutter, die am Grab ihres Kindes kniet.

»Der Fritz, ja der!« hörte sie wieder. »Aber wo bleibt der Hans? Warum holt er sich nicht auch einen Schatz aus dem Dorf? Er war doch auch auf Urlaub hier. Das macht, er mag die Mißwirtschaft im Hause nicht sehen. Die eigene Mutter verjagt ihn.«

Dann tat die Grete, als ob sie flüsterte; aber auch ihr Flüstern war wie ein Feldgeschrei: »Wie lang wird sie's noch ermachen, die Marie? Die letzte Kuh ist aus dem Stall; auch die Nähmaschine hat sie an den Händler weggegeben. Ich hab's mit angesehen. Ach je, ach je! das kommt davon (die Grete flüsterte noch geheimnisvoller), davon kommt's, daß sie den Matthias geheiratet hat, die junge Person den Matthias, den Wittwer, und hat doch ganz genau gewußt, wie es stand mit ihm. Gott soll mich bewahren!«

Die Marie verstand mehr, als ihr lieb war. Sie hielt es aus, wie ein Büßer, der sich peitschen läßt. Seufzend warf sie die Wäsche, die sie gespült, auf den Haufen. Das waren ihre eigenen arggeflickten Sachen und die der alten Anne, die mit im Hause half, und die ihres Söhnchens Gottlieb; denn sie hatte nur noch für ihren Gottlieb zu sorgen. Aber auch ein feines Herrenhemd war dabei: weiß mit rotgestreiftem Einsatz. Das war vom Hans. Das hatte sie noch von ihm. Wann würde er es wieder tragen?

Rauschend, aber trübe und gelb vom letzten Gewitterregen, schoß das Wasser unter ihr her und führte allerlei Astwerk und junge Blätter mit sich, die der Sturm abgerissen. Die jagten dahin, hinab, hinab! Wohin dies Unaufhörliche? Ein Gesang stieg süß gurgelnd aus der trüben Nässe zu ihr auf. Wer einmal – unglücklich und jung – am Strom gestanden, der weiß auch, was die Wasser singen: »Unser Bett ist tief, und wer nicht feste Wurzel hat, den nehmen wir mit und tragen ihn weich, und er fühlt nichts mehr und gleitet dahin, ein abgerissenes junges Blatt, ins Weite, in's Grenzenlose, in die wundervolle große Rast – Gottes Ewigkeit.« Ist es möglich? Gibt es einen Gott und Heiland, der uns aus solcher Tiefe, aus der Tiefe der nassen Flut in den Himmel hebt?

Welch fremdes Gefühl war das in ihr! Marie schüttelte sich: hu, der Graben war tief, und sie konnte nicht schwimmen! Die anderen Weiber waren schon gegangen. Rasch warf sie die Wäsche in den Korb und setzte den Fuß vor, um in's harte Leben zurückzukehren.

Es war wohl ein Anblick für ein Künstlerauge, wie sie, mit freiem Hals, das Kinn kräftig hochgezogen, den großen Korb auf dem Haupt wiegte, mit beiden Armen gleichmäßig zu der Last emporgriff und so, in ihrem schlanken und graden Wuchs, über die Wiese wandelte. Früher Kummer adelt. Sie trug die schlichten, treuherzigen Gesichtszüge ihrer Rasse, mit den kräftigen Backenknochen im schmalen Gesicht, das nußbraune Haar straff gescheitelt, den starken Zopf rundum wie einen weiten Kranz hoch um den Hinterkopf gelegt, die braunen Augen groß und voll Glanz, die Lippe immer noch voll und weich. Aber die Haut war ihr rauh in Spalten zerrissen, die Schläfe eingesenkt, und eine graue Müdigkeit hing in den Mienen. Die Sorge hatte sich in dies liebe Gesicht gegraben: enttäuschte Jugend, gescheiterte Kraft.

Gleich dort an der Dorfstraße lag Mariens Haus. Waldmann, der schläfrige Hund, rührte sich nicht, als sie kam. Das Gras wuchs im Hof zwischen den Steinen, der Lattenzaun war zerbrochen. Im Gärtchen blühten goldene Priemeln und die mattroten Glocken der Kaiserkrone; aber sie waren von wuchernden Nesseln fast erstickt.

  • Text-Herkunft: Gemeinfrei
  • Text-ID 3109
  • Hinzugefügt am 11. Jan 2014 - 19:30 Uhr

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Einsteller: sophie-clark

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