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Sammlung: Scholem Alejchem 02

Eine Hochzeit ohne Musikanten Teil 01

1859-1916, Scholem Alejchem


 

Die ewige Seligkeit

 

Wenn ihr wollt, erzähle ich euch eine hübsche Geschichte, wie ich einmal hineingefallen bin und beinahe für mein ganzes Leben unglücklich wurde. Und wie das kam? Doch nur, weil ich damals unerfahren und nicht allzu klug war. Es mag sein, daß ich auch heute nicht übermäßig gescheit bin; denn wäre ich gescheit, so hätte ich Geld.Wenn man Geld hat, so ist man bekanntlich klug und schön und ein guter Sänger dazu.

Ich war damals noch ein junger Mann, aß ›Köst‹ bei den Schwiegereltern, saß ruhig da, lernte und sah zuweilen hinter dem Rücken des Schwiegervaters und der Schwiegermutter auch in ein weltliches Buch hinein; das heißt, weniger hinter dem Rücken des Schwiegervaters als hinter dem der Schwiegermutter. Denn ihr müßt wissen, meine Schwiegermutter war ein Mannsbild, das heißt, sie hatte die Mütze auf. Sie leitete die Geschäfte, sie verheiratete die Kinder und besorgte die Mitgift für die Töchter. Auch mich hatte sie selbst für ihre Tochter gewählt, in den Wissenschaften geprüft und aus Radomischl nach Swohil gebracht. Ich bin nämlich ein Radomischler, ihr habt wohl sicher von dieser Stadt gehört.

Ich saß also in Swohil, aß Köst, schwitzte über dem Maimonides und ging niemals aus dem Haus. Als aber die Zeit der Assentierung kam, mußte ich nach Radomischl hinüberfahren, um meine Papiere in Ordnung zu bringen, mich um ein Befreiungsprivileg bemühen und mir einen Paß zu beschaffen, wie es nun einmal nötig ist. Das war meine erste Reise in die weite Welt hinaus. Ich ging selbst auf den Markt, um mir eine Fuhre zu mieten; ich tat es ganz allein, weil ich der Welt zeigen wollte, daß ich selbständig bin. Gott schickte mir eine billige Gelegenheitsfuhre: Ich erwischte einen Goj aus Radomischl mit einem wunderbaren Schlitten – es war im Winter – mit breitem Rücken und zwei Flügeln an den Seiten, wie bei einem Adler; auf das Pferd hatte ich aber gar nicht geachtet: es war nämlich weiß, und ein weißes Pferd, sagte die Schwiegermutter, bedeutet Unglück. »Gebe Gott, daß ich unrecht behalte, aber ich habe das Gefühl«, sagte sie, »daß diese Reise mit einem Unglück enden wird ...«

»Beiß dir die Zunge ab!« fiel ihr der Schwiegervater ins Wort, was er übrigens sofort bereute, denn er bekam von ihr auf der Stelle ein ordentliches Donnerwetter. Mir sagte er aber leise: »Das sind so Weibereinfälle!«

Ich machte mich also reisefertig, nahm Talles und Tfillin, etwas Buttergebäck, ein wenig Geld für die Auslagen und drei Kissen: ein Kissen, um darauf zu sitzen, ein Kissen, um mich anzulehnen, und ein Kissen für die Füße. Und nun kam der Abschied. Als es aber zum Abschiednehmen kam, ist meine Zunge wie gelähmt! Es kommt mir so unschicklich vor, einem Menschen den Rücken zu kehren und ihn allein zurückzulassen. Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber für mich ist das Abschiednehmen eine der schwierigsten Sachen. Doch halt! Ich glaube, daß ich zu weit von der Geschichte abschweife ...

Ich nahm also Abschied und machte mich auf nach Radomischl. Es war Anfang Winter, es hatte ordentlich geschneit, und der Schlittenweg war ausgezeichnet. Das Pferd war zwar weiß, flog aber so schnell dahin wie ein Psalm. Und der Goj, den ich erwischt hatte, gehörte zu den Schweigsamen: Er war einer von den Gojim, die auf jede Frage entweder mit einem ›Ehe!‹, das heißt ›ja‹, oder mit einem ›Ba-ni!‹, das heißt ›nein‹, antworten und von denen man sonst nichts zu hören bekommt. Ich fahre von zu Hause nach dem Essen ab, bin in der besten Laune und habe ein Kissen unter mir, ein Kissen im Rücken und ein Kissen auf den Füßen. Das Pferd rennt, der Goj schnalzt mit der Zunge, der Schlitten fliegt, der Wind weht, und die Schneeflocken legen sich wie Bettfedern auf die Landstraße. Es ist mir so wohl zumute, ich fühle mich so frei und heiter: Ich fahre ja zum ersten Mal in Gottes Welt hinaus und bin mein eigener Herr! Und ich lehne mich zurück und mache mich breit wie ein Graf ...

Es ist aber Winterszeit. Wie warm man auch angezogen ist, hat man doch Lust, Station zu machen, in einer warmen Stube auszuruhen und dann weiterzufahren. Und ich male mir eine warme Schenke aus und einen kochenden Samowar auf dem Tisch und einen Teller heiße Suppe mit Suppenfleisch ... Solcherlei Gedanken beklemmen mir das Herz, und ich fühle, daß ich unbedingt etwas in den Mund nehmen muß. Nun beginne ich meinen Goj auszufragen und möchte von ihm wissen, ob es noch weit bis zur nächsten Schenke ist. Antwortet er mir: »Ba-ni«, das heißt ›nein‹. Frage ich ihn: »Ist es nahe?« antwortet er »Ehé«, das heißt ›ja‹. Wie lange wir aber noch zu fahren haben, kann man von ihm unmöglich herausbekommen, und wenn man auch sein Leben läßt! Und ich stelle mir vor, was sich abgespielt hätte, wenn der Fuhrmann kein Goj, sondern ein Jude – es sei zwischen den beiden wohl unterschieden! – wäre: Er hätte mir nicht nur ganz genau erklärt, wo die Schenke ist, sondern auch mitgeteilt, wer der Wirt ist und wie er heißt und wieviel Kinder er hat und welche Pachtsumme er zahlt und was ihm die Schenke einbringt und wie lange er sie schon hat und wer sie vor ihm gehabt hat – lange Geschichten hätte er mir erzählt. Es ist doch wirklich ein sonderbares Volk! Ich meine unsere Juden, gesund sollen sie sein. Sie haben ein ganz anderes Blut, so wahr ich lebe! ...

So träumte ich von einer warmen Wirtsstube, einem heißen Samowar und ähnlichen guten Dingen, bis Gott sich meiner erbarmte, mein Goj mit der Zunge schnalzte und das Pferd etwas seitwärts lenkte. Und es zeigte sich ein kleines, graues, schneeverwehtes Häuschen, das inmitten der Schneefelder so trostlos, elend und einsam dalag wie ein vergessener Grabstein ... Wir fuhren nobel vor, der Goj brachte das Pferd in den Stall, und ich begab mich in die Wirtsstube. Ich mache die Tür auf und bleibe starr an der Schwelle stehen. Was ist das für eine Geschichte? Es ist eine kurze, doch schöne Geschichte: mitten in der Wirtsstube liegt auf dem Boden eine Leiche, mit einem schwarzen Tuch zugedeckt,an ihrem Haupt stehen zwei Messingleuchter mit brennenden Kerzen, und abgerissene, verwahrloste kleine Kinder sitzen um sie herum und klagen, weinen und jammern: »Mutter! Mutter!« Und ein Kerl in einem zerrissenen Sommermantel, der durchaus nicht nach der Jahreszeit ist, geht mit langen Beinen auf und ab, ringt die Hände und redet zu sich selbst: »Was soll ich tun? Was soll ich anfangen? ...«

Natürlich verstand ich sofort, was es für eine Hochzeit war. Mein erster Gedanke war: Nojach, entfliehe! Ich wollte auch wirklich fort, aber meine Füße waren plötzlich wie gelähmt, und ich konnte mich nicht vom Fleck rühren. Als der lange Kerl mit den langen Beinen mich erblickte, stürzte er zu mir und streckte mir die Hände wie ein Ertrinkender entgegen:

»Was sagt Ihr zu meinem Unglück?« sagt er zu mir und zeigt auf die Gesellschaft, die am Boden sitzt und weint. »Die Mutter ist ihnen gestorben! Was soll ich tun? Was soll ich tun?«

»Gepriesen sei der Richter der Wahrheit!« sage ich ihm und will ihn trösten, wie es sich schickt, er unterbricht mich aber und sagt:

»Versteht Ihr mich, sie war schon seit Jahren so gut wie tot, denn sie hatte die gute Krankheit, die richtige Schwindsucht, und wünschte sich selbst den Tod. Was soll ich aber tun? Was soll ich tun? Ich müßte in das nächste Dorf gehen und eine Fuhre suchen, um die Leiche nach dem Städtchen zu bringen. Wie könnte ich aber die Kinder allein zurücklassen? Es ist ja schon bald Nacht! Was soll ich tun? Was soll ich tun?«

Bei diesen Worten begann der Mann zu weinen; es war ein merkwürdiges Weinen, ganz ohne Tränen, und klang mehr wie ein Lachen. Der Mann kostete mich wirklich ein Stück Gesundheit! Wer denkt noch an Hunger? Wer an Kälte? Ich vergesse alles und sage ihm:

»Ich fahre aus Swohil nach Radomischl und habe einen ausgezeichneten Schlitten. Wenn das Städtchen, von dem Ihr redet, nicht weit von hier ist, kann ich Euch meinen Schlitten geben und selbst hier warten, bis Ihr wieder zurückkommt.«

»Lange leben sollt Ihr für dieses gottgefällige Werk! Ihr erwerbt Euch damit die ewige Seligkeit, so wahr ich Jude bin!« sagt er zu mir und will mich umarmen. »Das Städtchen ist gar nicht weit von hier, höchstens vier oder fünf Werst*. Es wird nicht mehr als eine Stunde dauern, und ich schicke Euch den Schlitten gleich wieder zurück. Ihr werdet Euch damit die ewige Seligkeit erwerben, so wahr ich Jude bin, die ewige Seligkeit! Kinder! Steht vom Boden auf und dankt diesem jungen Mann, küßt ihm Hände und Füße, weil er uns seinen Schlitten gibt, damit wir die Mutter an eine heilige Stätte bringen können! Die ewige Seligkeit verdient Ihr Euch damit, so wahr ich Jude bin, die ewige Seligkeit!«

Das Wort ›Freude‹ kann ich nicht gut gebrauchen: denn als die Kinder hörten, daß man ihre Mutter wegbringen will, fallen sie über die Leiche her und beginnen mit neuen Kräften zu weinen. Aber es machte auf sie doch einen großen Eindruck, daß sich ein Mensch gefunden hatte, der ihnen diese Gnade erweisen wollte. Gott selbst hat ihn wohl geschickt! Man sah mich wie einen Erlöser an, wie den Propheten Elias; ich muß euch die Wahrheit sagen: Auch ich selbst betrachtete mich in diesem Augenblick als einen nicht ganz gewöhnlichen Menschen, ich war in meinen eigenen Augen gewachsen und hielt mich für einen Helden. In diesem Augenblick war ich imstande, Berge zu versetzen, die ganze Welt auf den Kopf zu stellen, keine Sache schien mir zu schwer, und fast unwillkürlich kamen mir die Worte aus dem Mund:

»Wißt Ihr was? Ich will sie selbst mit meinem Schlitten hinbringen! So erspare ich Euch die Mühe, und Ihr braucht Eure Kinder nicht allein zu lassen.«

Je mehr ich redete, um so mehr weinte die Familie. Sie sahen mich wie einen Engel vom Himmel an, und ich wuchs auch in meinen eigenen Augen immer mehr, beinahe in den Himmel hinein. Ich hatte sogar ganz vergessen, wie sehr ich mich sonst fürchtete, eine Leiche anzurühren: Mit meinen eigenen Händen half ich sie aus dem Hause hinauszutragen und in den Schlitten zu legen. Ich versprach meinem Goj noch einen halben Rubel in bar und noch einen Schluck Branntwein in Natur. Anfangs kratzte er sich hinterm Ohr und brummte etwas in den Bart; aber nach dem dritten Gläschen ließ er sich erweichen, und so machten wir uns zu dritt auf den Weg: Das heißt ich, und der Goj, er sei von mir wohl unterschieden, und die tote Frau Chawwe-Nechome. So hat sie geheißen: Chawwe-Nechome, Tochter des Refoel-Michel. Den Namen weiß ich auch heute noch so genau, als wenn die Geschichte sich erst gestern zugetragen hätte; während der ganzen Fahrt lernte ich in einem fort den Namen, den mir ihr Mann gesagt hatte:Denn um einen Menschen zu beerdigen, muß man doch seinen vollständigen Namen wissen.

  • Text-Herkunft: Gemeinfrei
  • Text-ID 3444
  • Hinzugefügt am 19. Jan 2014 - 21:38 Uhr

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ein, hochzeit, ohne, musikanten, scholem, alejchem, kissen, jude

Einsteller: sophie-clark

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