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Marie Bernhard /Heimatluft Teil 01

Sammlung: Marie Bernhard

Heimatluft Teil 01

o. J., Marie Bernhard

»Sie entschuldigen, mein Herr – sitzen Sie vielleicht lieber rückwärts? Darf ich Ihnen vielleicht meinen Platz anbieten?«

»Danke. Nein. Ich sitze sehr gut hier.«

»So so! Ich meinte nur so. Erlauben Sie, daß ich mir eine Zigarre anzünde?«

»Aber bitte, dies ist ja kein Nichtraucherabteil.«

»Das ist wahr. Na, denn werde ich also –. Wollen Sie nicht auch probieren? Sehr gutes Kraut! Aus Hamburg importiert! – Ich war nämlich eben in Hamburg.«

»Besten Dank. Ich rauche sehr selten.«

»Na, dies ist aber 'n feines Zigarrchen, auf Wort! Kennen Sie Hamburg? Forsche Stadt – was? Kann sich so bald nichts mit vergleichen. Da gewesen?«

»O ja!«

»Sie müssen doch zugeben – fein! Ja – ja – ja – was ich noch sagen wollte: fahren Sie weit?«

»Noch sechs Stunden!«

»Sechs Stunden? Ich auch so lange! Wie sich das trifft! Auch nach W. hinunter?«

»Ja!«

»Sind wir also Leidensgefährten! Obgleich von Leiden eigentlich nichts zu reden ist, hier in der ersten Klasse. Ich fahr' sonst nicht erster Klasse – immer in der zweiten – die ist auch ganz gut. Und Zeiten hat's gegeben, wie ich noch jung war, wo ich froh gewesen bin, wenn ich hab' können in die dritte Klasse einsteigen. Ja, ja ja! Können mir glauben! Ich schäm' mich nicht, drüber zu sprechen. Warum sollt' ich mich auch schämen? Seine Eltern beerben und sich auf'n großen Sack voll Geld setzen und dann den Vornehmen spielen und alles erster Güte haben ... i, da kann jeder kommen! Aber sich selbst was verdienen und ordentlich schanzen, so von der Pike auf – und dann hinter sich sehen und sagen können: Ist alles deins! Hast du dir alles selber erworben! Das klingt anders – können Sie mir auf Wort glauben!

»Gewiß!«

Es war die knappste Form der Zustimmung, die knappste Form der Höflichkeit; ein halb unterdrückter Seufzer folgte dem einzigen Worte. Da hatte der Zufall wieder mal zwei auffällige Gegensätze zusammengewürfelt: einen Reisenden, der schweigen, und einen, der reden wollte. Und rettungslos waren sie aneinander geschmiedet. Der Eilzug raste mit ihnen in die warme, dunstige Sommernacht hinaus, und außer ihnen beiden war keine Menschenseele im Wagenabteil erster Klasse.

Hätte Georg Unger gewußt, was ihm bevorstand, er würde vorgegeben haben, kein Deutsch zu verstehen. Damit war's aber zu spät. Wie, wenn er sich schlafend stellte, obwohl er nicht eine Spur müde war?

Er lehnte den Kopf hintenüber und schloß die Augen.

»Ach, Sie werden doch nicht schlafen wollen? Nein, hören Sie, dazu würd' ich Ihnen nicht raten! Dauert nicht lang', und der Schaffner kommt und löscht die Lampen aus, und es wird hell draußen. Und wenn es erst hell ist – na, dann schläft man doch nicht mehr, – dann setzt man sich ans Fenster und guckt raus. Ganz nette Gegend hier, müssen Sie wissen. Gott, na nein, die Schweiz ist es ja nun natürlich nicht – aber schönen Wald kriegen wir zu sehen und auch ganz hübsche Höhenzüge und Seen – na, für die Seen ist's ja hier herum ganz berühmt, das werden Sie doch wissen!«

Keine Rettung! Der dicke, grauhaarige Herr mit dem roten Gesicht – er sah nach einem Weinhändler aus – war nicht still zu bekommen. Höchstens hätte Georg Unger sackgrob werden müssen, und das wollte er nicht.

Tatsache war: Georg Unger gefiel dem dicken, roten Herrn, seine äußere Erscheinung imponierte ihm, und er beschloß, ohne weiteres mit ihm anzuknüpfen. War jener schweigsam und zurückhaltend ... er war desto redseliger.

Dabei hatte der dicke Herr ein so gutmütiges, breites Gesicht und solche kleine freundlich zwinkernde Äugelchen, daß schon ein ganz bedeutender Grad von übler Laune dazu gehörte, dies harmlos zufriedene Geschöpf Gottes hart anzulassen. Zudem sprach er Georg Ungers Heimatsdialekt – den hatte er undenklich lange nicht gehört, und wenn ihm tausend Menschen bewiesen hätten, daß dieser ostpreußische Dialekt unschön sei .. . er würde ihnen zugestanden haben: Ja, ja, Sie haben ganz recht – aber – eben – schön ist er doch!«

Nicht für das Ohr schön. – Das war wirklich unmöglich! Schön fürs Herz! Und in Georg Unger war dieser bis dahin höchst verständig funktionierende Muskel plötzlich aufgewacht und machte ganz sonderbare Sprünge, und es zitterte beständig durch ihn hin eine Empfindung, die halb Rührung war und halb Mitleid, und halb Beschämung und halb Sehnsucht, und halb Neugierde ... ach, nun war es schon viel mehr als ein Ganzes, was da zusammenkam! – Gern hätte er in sich hineingelauscht und versucht, aus all den verworrenen Anklängen eine bestimmte Melodie zu bilden – aber da bilde sich mal jemand eine Melodie, wenn solch ein kompaktes, rotes Individuum einem gegenübersitzt und schwatzt, als ob es dafür bezahlt würde!

»Sehen Sie,« begann der Dicke jetzt von neuem – er schnaufte vernehmlich beim Atemholen und schneuzte sich mit dem Geräusch einer kleinen Trompete – »mein Gewerbe führt mich allerwärts hin. Ich bin Weinhändler,« – also richtig! dachte Georg Unger – »hab' von ganz klein angefangen, aber jetzt hat die Geschichte schon so'n ganz ansehnlichen Schwung gekriegt, und mein Umsatz ist nicht schlecht. Kommt nämlich alles aufs Renommee an, das einer als Kaufmann hat. Taugt das nichts – na, adieu Partie, denn ist die ganze Geschichte Essig! Was ich sagen wollte – – – wenn einer da so in der Welt herumkarriolt, denn muß man sich ja sagen: 's gibt allerlei Schönes auswärts zu holen, so wie man's zu Hause nie und nimmermehr hat. Nee – und dennoch: 's ist nun 'mal zu Haus', und jedesmal, wenn ich in meine Gegend zurückkomm' ... hast du nicht gesehn – ist wieder die alte Geschichte: ich freu' mich, und ich kann mir nicht helfen!«

Georg Unger nickte nur zu diesen Worten, aber in sein bis dahin kühl gelassen dreinblickendes Gesicht, das dem Weinhändler so »vornehm« erschien und darum ihm, dem Mann aus dem Volke, so imponierte – in dies Gesicht kam ein solcher Ausdruck von Wärme und freudiger Zustimmung, daß der Dicke bei sich dachte: »Jetzt endlich hab' ich die richtige Saite angeschlagen! Mit dem Heimatsgefühl, da hab' ich diesen feinen Kunden beim Wickel!«

»Sie sind ja nun kein Deutscher!« fuhr er behaglich fort, nachdem er geräuschvoll an seiner Zigarre gesogen hatte. »So was hat man ja bald raus. Engländer oder Amerikaner, nicht wahr? Das letztere. Na, sehn Sie woll! Aber deswegen können Sie mich immer ganz gut verstehen. Warum soll 'n Amerikaner nicht auch sein Vaterland lieben können, frag' ich!«

»Eben!« bestätigte Georg lächelnd.

»Die Leute tun immer so, als hätten wir Deutschen die Heimatsliebe extra gepachtet. Unsinn, sag' ich! Das liegt im Menschen, und damit Punktum! Ich für meine Person – Gott, ich könnt' ja auch in Hamburg leben oder in Frankfurt am Main – schöne Stadt, Frankfurt am Main – oder meinetwegen in Berlin, obgleich Berlin – na, ich weiß nicht – Berlin, das ist mir beinahe zu großstädtisch, da verkrümelt sich der Mensch, er weiß nicht wie! Aber nein, ich bin nicht mal in W. geboren – auf so 'nem Dorf, wissen Sie, zehn, zwölf Meilen davon – aber ich bin da zu Geld und Ansehen gekommen und hab' da geheiratet und alles – na, der Mensch muß schließlich nicht undankbar sein! Wenn ich da nun sitzen bleib' als wohlhabender Bürgersmann und zahl' redlich meine Steuern und red' in der Stadtverordnetenversammlung und geb' meinen Anteil zu wohltätigen Zwecken, helf' da Waisenhäuser einzurichten und Hospitäler zu bauen, und die Leute kommen nachher und bedanken sich bei mir – na, sehn Sie 'mal, es liegt so was drin! Man wird ja der Narr nicht sein und sich was drauf einbilden, wenn man hilft und gibt – aber, weiß der Himmel, man greift doch 'n bißchen tiefer in die Tasche wenn es heißt: es ist für unsere Stadt, für die Stadt, in der man lebt, die einen sozusagen zum Mann gemacht hat!«

»Natürlich!« stimmte Georg bei. Dann, nach einer kleinen Pause, fragte er in unbefangenem Tone: »Ist denn Ihr W. eine hübsche Stadt?«

»Gott – hübsch – hübsch?« Etwas verlegen zog der Weinhändler die Achseln hoch. »Für mich schon – ob für den Fremden? Weiß ich nicht recht, glaub' ich auch nicht recht! 's hat 'ne nette, idyllische Umgebung – viel Wasser und Wald, wissen Sie – und 'n schönes, altes Schloß, wir nennen es Ruine, aber es sind noch respektable Reste von dem alten Bau da, liegt sehr malerisch, das Ganze, und ist 'n Restaurant dabei. Des Abends da Krebse, in Kümmel abgekocht, zu essen, oder geschmorte Pilze, und dann kommt so sachtchen der Vollmond herauf und steht überm See – das ist Ihnen nicht bitter! W. hat 'n gutes Gymnasium, ist auch Garnison, Ulanen, und die Stadt hat sich in den letzten – na, wollen mal sagen achtzehn bis zwanzig Jahren gewaltig aufgenommen. Wer seitdem nicht darin war, der würd' es kaum wieder erkennen.«

»Wirklich?«

Die Stimme des »Amerikaners« klang ein wenig bedeckt. »Können mir auf Wort glauben. Was ist nicht alles gebaut worden in der Zeit! Von den öffentlichen Gebäuden gar nicht zu reden ..., bloß die Privatleute! Keiner will hinter dem andern zurückstehen – der eine baut sich 'n Schweizerhaus und der andere 'ne feine Villa, in dem Stil und in dem. Ich hab' auch so'n Ding – hat schwer Geld gekostet, ist Barock, sagt mein Baumeister. Sehr hübsch anzusehen, aber nicht viel darin unterzubringen, ist mir nicht geräumig genug.«

»Gehört auch ein Garten dazu?«

»Will ich meinen! Meine Frau sagt, der ist eigentlich die Hauptsache. Wenn ich kann, nehm' ich mir nächstens den Nachbargarten noch dazu; da ist nämlich der Besitzer davon gestorben, so'n richtiges Original.«

»In der Tat? Das müssen Sie mir erzählen! Ich habe immer gehört, die deutschen Originale stürben aus!«

»Tun sie auch, obgleich andere Nationen ja meines Wissens auch kein Monopol auf Originale haben! Ja, aber der alte Kordeleit!« Der Weinhändler setzte sich behaglich und breit zurecht und brannte sich eine frische Zigarre an. »Den hat ganz W. gekannt, und die Leute waren ordentlich stolz auf ihn. Nicht, daß er liebenswürdig war! Ein sacksiedegrober Kerl und niederträchtig launenhaft – in manchem Punkt so knauserig, daß es schon schmutzig zu nennen war – und auf der andern Seite ganz unvermutet plötzlich wieder von einer solchen Großmut, daß es an Verschwendung grenzte. Seine Hinterlassenschaft soll denn auch gar nicht so groß sein – er war zu eigensinnig, ließ sich nichts raten mit Papieren und Hypotheken und so was. Je mehr einer ihm zuredete, um so widerborstiger wurd' er, setzte seinen Dickkopf auf und litt lieber allen Schaden, als daß er zugab: Du hast recht gehabt und ich bin im Unrecht. Mit seinem Testament tun sie sich schrecklich geheimnisvoll – Gott, mir kann es egal sein, mich könnt' ebensogut der türkische Sultan zum Erben einsetzen wie der alte Kordeleit –, aber die Juniussens werden sich nicht schlecht grämen!«

»Sollen die die Erben sein?«

»Sollen? Ich weiß nicht! Sie waren so'n bißchen verwandt mit dem Alten – durch den Scheffel Erbsen gejagt, wie's bei uns heißt. Der Junius war Kaufmann, ist dann runtergekommen, eigentlich ohne seine Schuld, er hat Pech gehabt, war auch nicht besonders findig – da hat er sich denn beim alten Kordeleit nützlich gemacht, soweit dessen Eigensinn das zuließ. Junius hat Reisen für ihn gemacht, ihm An- und Verkäufe vermittelt, kurz, er ging bei ihm aus und ein. Um die Familie hat sich der Alte wenig bekümmert – es sind fünf, nein, sechs Kinder da, und alle noch zu erziehen. Frau Junius ist viel krank und ihr Mann kann nichts Rechtes mehr verdienen; bei den kleinen Agenturgeschäften kommt nichts raus, und zu den großen gehört Kapital und 'n flottes Renommee – das hat der arme Teufel nicht! Nun mag er sich in aller Stille wohl Rechnung auf einen Anteil am Geld des alten Kordeleit gemacht haben – verdenk' es ihm, wer kann! Leibeserben sind keine – der Alte war Junggeselle – nahe Verwandte existieren auch nicht. Aber da muß kurz vor dem Tode des Alten zwischen den beiden was passiert sein – sie haben in Kordeleits Arbeitszimmer fürchterlich laut miteinander gesprochen, dann ist der Junius mit 'nem fuchsfeuerroten Gesicht herausgestürzt und hat mit den Türen geknallt, daß das Haus zitterte. – Und jetzt sagen ja die Leute, er und seine Familie kriegen keinen Heller von der ganzen Bescherung. Gott, und die Juniussens könnten das brauchen! Vier Jungen im Haus und zwei Mädels, die kranke Frau – und das nagt nun alles zusammen am Hungertuch!«

»Wer ist denn nun Erbe?«

»Ja, wenn ich das wüßte! Die sagen, die Stadt kriegt alles, und die sagen, 's geht alles nach Berlin zu irgend 'ner gemeinnützigen Stiftung – und welche wieder munkeln was von 'nem Verwandten, auf den sich der Alte mit einem Male besonnen hat. An die Stadt und die Stiftungen glaub' ich nicht recht – der alte Kordeleit hat sich oft so giftig und eklig über dergleichen ausgesprochen, daß er schon den Verstand nicht mehr beisammen gehabt haben müßt', um so was zu tun. Na, warten wir's ab. Um die Juniussens tut's mir aber leid, sie haben so nette Kinder. Ja, ja, ja, wie das so auf der lieben Gotteswelt zugeht!«

Nach dieser philosophischen Schlußbemerkung stockte das Gespräch für eine Weile ganz. Der Weinhändler seufzte ein paarmal, schüttelte den Kopf, seufzte von neuem und nickte dann ein. Die glimmende Zigarre fiel ihm vom Mund weg in die Wagenpolster. Georg Unger hob sie hastig auf und zerstampfte sie im Aschenbecher.

Auch der Eintritt des Schaffners, der die Lampe zu löschen kam, weckte den behaglichen Herrn nicht aus seinem Schlummer. Die Reisemütze bis auf den Hinterkopf zurückgeschoben, den Mund halb offen, ließ seine Physiognomie gerade nicht den Ausdruck hoher Intelligenz erkennen. Nachdem es ihm ein paarmal in der Kehle gegurgelt und gebrodelt hatte, als sei er am Ersticken, setzte ein regelmäßiges Schnarchen ein, das an kunstgerechtes Holzzersägen erinnerte.

Georg Unger schob sachte den Vorhang vom Fenster zurück und blickte in die rasch lichter werdende Landschaft hinaus. Es war Morgendämmerung.

Um die Höhenzüge, von denen der Weinhändler gesprochen, wanden sich noch dichte Nebel wie weiße, wallende Tücher, sie krochen gleichsam an den grünen Bergen hin. So rasch der Zug fuhr, man sah doch, wie der erwachende, frische Morgen den Bäumen über die Häupter strich, bis sie erschauerten und sich wie schlafestrunken schüttelten. Jetzt eine weite Wiese, auf der es wie ein zartes, graues Perlennetz ausgespannt lag; über Nacht war starker Tau gefallen. Am Waldesrand schwankte langes dünnes Gras wie grünes Haar. Dicht, dicht brauste der Bahnzug an einem großen Roggenfelde vorüber; daraus stieg es auf mit einem hellen, zarten Zwitscherlaut und hob sich auf bebenden Flügelchen empor, leicht und schön, wie von der Luft rückwärts getragen – die erste erwachende Lerche.

Es sproßte etwas auf im stillen Herzen des Zuschauers, blühte gleichsam darin empor wie rasch sich entfaltende Blumen. Schwach und süß war ihr Duft; aus fernen Tagen kam er herüber – aus Tagen der Kindheit!

Auf seinen Vater entsann er sich nur undeutlich – ein großer, hagerer Mann war es gewesen, der viel hustete und seine Kinder nur wenig um sich dulden konnte. Georgs älterer Bruder, Eduard, sah dem Vater ähnlich – lang und schmal in die Höhe geschossen, mit gewölbtem Rücken und vornüberhängenden Schultern. Eduard war sehr fleißig in der Schule, ein sogenannter »Musterknabe«, von früh bis spät bei den Büchern zu finden und bei dem jüngeren Bruder nicht sonderlich beliebt, da er ihm fortwährend als Beispiel vorgehalten wurde. Dann war da noch die kleine Schwester, das Trudchen, ein niedliches, munteres Ding, das im Hause manchen Schabernack machte, aber auch viel Lust und Lachen hineinbrachte mit seinem hellen Stimmchen und den funkelnden dunklen Augen.

Seit des Vaters Tode wurden die drei Kinder von der Mutter regiert – einer resoluten Frau, der es gar nicht darauf ankam, ihren heranwachsenden Söhnen rechts und links ein Paar Ohrfeigen auszuteilen, wenn sie nach ihrer Ansicht »nicht gut taten«. Der älteste »büffelte« ihr zu viel, brannte bis in die halbe Nacht Petroleum und ruinierte sich die ohnehin schon schwache Brust vollends mit Stubenhocken. Numero zwei, der liebe Georg, trieb sich wieder zu viel draußen umher, fertigte seine Schulaufgaben mit genialer Flüchtigkeit ab, scheuerte Knie und Ellenbogen an seinen Anzügen vorzeitig durch, rieb sich grundsätzlich nie die Füße an der Strohmatte im Hausflur ab und besaß einen Appetit, der ans Unheimliche grenzte. Das Trudchen war allgemeiner Liebling, aber nach der Mutter Ansicht hätte es auch mehr Stetigkeit beim Strickstrumpfe und Zeichentuche entwickeln können, anstatt mit dem Georg Boot zu fahren oder auf den Apfelbaum im Garten zu klettern.

Dieser Apfelbaum und dieser Garten! Ob sie wohl beide noch existierten, ebenso wie der Mann hier im rasch dahinsausenden Eisenbahnzug sie in Erinnerung hatte?

Ob der kraftstrotzende, mächtige Baum mit den weitausladenden Zweigen wohl immer noch im Frühjahr wie ein gewaltiges rosig schimmerndes Bukett anzusehen war, und ob er im Herbst seine zahllosen, rot und goldig geflammten Früchte trug, die so saftig waren und nach Wein schmeckten?

  • Text-Herkunft: Gemeinfrei
  • Text-ID 6163
  • Hinzugefügt am 22. Aug 2014 - 18:39 Uhr

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Einsteller: sophie-clark

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