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Sammlung: Jules Amedée d'Aurevilly

Der rote Vorhang Teil 01

1808-1889, Jules Amedée d'Aurevilly

Es ist schrecklich lange her, als ich mich eines Tages zur Jagd auf Wasserwild nach den Sümpfen des Westens aufmachte. In der Gegend, nach der ich wollte, gab es damals noch keine Eisenbahn. Ich setzte mich also in die Post, die am Wegekreuz bei dem Schlosse Rueil vorbeifuhr.

Ein einziger Reisender saß im Abteil erster Klasse, und zwar ein in jeder Hinsicht ganz besonderer Mensch. Ich kannte ihn, wie man sich so kennt. Er war mir in der Gesellschaft öfters begegnet. Sagen wir er hieß Graf von Brassard.

Es war nachmittags gegen fünf Uhr. Die Sonne warf nur noch matte Strahlen auf den Staub der Landstraße, hinter deren Pappelreihen sich die weiten Wiesen dehnten. Unsere vier starkkruppigen Gäule trabten flott vorwärts, vom Peitschenknall des Postillons getrieben.

Brassard, der nebenbei bemerkt in England erzogen war, stand damals längst auf der Höhe des Lebens, aber er gehörte zu jener Sorte von Menschen, die, schon dem Tode verfallen, sich dies nicht anmerken lassen und bis zum letzten Augenblicke behaupten, sie dächten nicht an das Sterben. Im gewöhnlichen Leben und auch in der Literatur spottet man über Leute, die jung zu sein vermeinen, obgleich sie über die glückliche Zeit der Torheiten beträchtlich hinaus sind. Der Spott ist am Platze, wenn solches Jungbleibenwollen in lächerlicher Form zutage tritt. Zuweilen jedoch wirkt dieses Nichtlassen von der Jugend geradezu großartig. Stolze Naturen lassen sich nicht werfen. Im Grunde freilich ist auch das sinnlos, denn es ist vergebliches Vemühen. Aber es ist schön, wie so vieles Sinnlose. Wer so dem Alter trotzt, in dem lebt der nämliche Heldengeist wie in der Alten Garde bei Waterloo, die eher starb, als daß sie sich ergab. Und für ein Soldatenherz ist das Nie-und-nimmer-sich-ergeben doch die Losung in allen Dingen des Lebens.

Der sich nie ergebende Brassard – er lebt übrigens noch; wie er lebt, das geht aus dem Folgenden hervor – war damals, als ich zu ihm in die Postkutsche stieg, im Lästermunde der Welt ein sogenannter »alter Schwerenöter«. Allerdings wem Zahlen und Urkunden über das Alter eines Menschen nicht viel bedeuten, weil jedermann just so alt ist, wie er aussieht, dem war und blieb der Graf einfach »ein Schwerenöter«, oder besser ausgedrückt – denn diese Bezeichnung klingt zu kleinbürgerlich – ein Prachtmensch. Entschieden war er das zum Beispiel in den Augen der Marquise von V***, einer Kennerin in puncto Mannestugend, einer echten Dalila, die so manchen Simson unter ihrer Schere gehabt hatte. Alte Schwerenöter sind zumeist lüsterne, magere, dürftige, gezierte Erscheinungen. So darf man sich aber den Grafen von Brassard ja nicht vorstellen. Da bekäme man ein grundfalsches, Bild. Leib, Geist, Haltung, Bewegung, alles an ihm war stattlich, verschwenderisch, vornehm, herrenhaft-gelassen. Mit einem Worte, er war ein echter Dandy wie Georg Brummel in seiner besten Zeit. Wäre er weniger ein Dandy gewesen, so hätte er es zweifellos bis zum Marschall von Frankreich gebracht. Er war einer der glänzendsten Offiziere des ersten Kaiserreichs. Regimentskameraden von ihm haben mir des öfteren seine Tapferkeit gerühmt. 5ie sei so groß gewesen wie die von Murat und Marmont zusammengenommen. Dazu hatte er viel Witz und viel Kaltblütigkeit. Somit hätte er als Soldat rasch sehr hoch kommen können, wenn er eben nicht so sehr Dandy gewesen wäre. Einem Offizier müssen Gehorsam, Pünktlichkeit und allerlei andere Diensttugenden in Fleisch und Blut übergegangen sein. Das ist aber mit dem Dandytum unvereinbar. Man kann nicht Berufssoldat und zugleich Dandy sein. Offiziere wie Brassard sind in einem fort nahe daran, um die Ecke zu gehen. Und Brassard wäre während seiner Soldatenzeit zwanzigmal um die Ecke gegangen, wenn er nicht wie alle Lebenskünstler Glück gehabt hätte. Mazarin hätte ihn brauchen können; seine Nichten auch, freilich aus anderen Gründen. Brassard war wirklich ein Prachtmensch.

Er war mit jener Schönheit begnadet, die ein Soldat nötiger hat denn jeder andere. Ohne Schönheit hat man auch keine Jugend. Eine Armee muß sich jung fühlen; dann ist das ganze Land jung und schön. Übrigens war Brassards Schönheit, mit der er sich nicht nur die Frauen, sondern auch die guten Gelegenheiten – diese alten Vetteln – zu eigen machte, nicht sein einziger Schutzengel. Soviel ich weiß, war er normanischer Abkunft, ein Nachkomme Wilhelms des Eroberers. Auch er war ein Eroberer. Nach dem Sturze Napoleons hielt er es natürlicherweise mit den Bourbonen, und während der hundert Tage bewahrte er ihnen schier übernatürliche Treue. Als die Bourbonen dann abermals auf den Thron kamen, machte ihn Karl der Zehnte eigenhändig zum Ritter des Ludwig-Ordens. Während der ganzen Zeit der Wiederherstellung zog »der schöne Brassard« kein einziges Mal auf Wache in den Tuilerien, ohne im Vorbeimarsch ein paar huldvolle Worte von der Herzogin von Angoulême einzuheimsen. Für ihn fand sie die Liebenswürdigkeit wieder, die ihr das Unglück geraubt hatte. Dem Kriegsminister waren diese Veweise allerhöchster Gnade nicht unbekannt. Er hätte wer weiß was für die Beförderung eines Offiziers getan, den Madame derart auszeichnete, aber es ging beim besten Willen nicht. Der Tollkopf warf bei einer Besichtigung vor der Front seines Regiments dem kommandierenden General, der ihm eine dienstliche Ausstellung machte, den Degen vor die Füße und der Minister vermochte den Grafen gerade noch mit knapper Not vor dem Kriegsgericht zu bewahren. Derlei Achtungslosigkeit machte Brassard im Heere unmöglich. Nur im Felde, wo er mit Leib und Seele Offizier war, fügte er sich höherem Befehl. Im Frieden kümmerte er sich den Teufel um Dienstvorschriften. Unzählige Male entfernte er sich unversehens aus seinem Standorte und vergnügte sich wer weiß wo, ungeachtet der Gefahr, sich endlosen Stubenarrest zuzuziehen. War Parade oder besonderer Dienst, so tauchte er wieder in der Kaserne auf, von seinem ihm treuergebenen Feldwebel benachrichtigt. Brassards Vorgesetzte hatten natürlich verdammt wenig für einen so zuchtlosen Offizier übrig, dessen Natur nun einmal keinerlei Zwang und Regel vertrug. Seine Grenadiere aber gingen für ihn allesamt durch das Feuer. Er war ihr Abgott. Von ihnen verlangte er nichts weiter, als daß sie durch und durch schneidig, ehrliebend und fesch waren. Mit einem Worte, er wollte Soldaten vom alten Schlag unter sich haben, Soldaten, wie man sie so meisterlich in gewissen alten Soldaten- und Volksliedern gezeichnet findet. Vielleicht verleitete er seine Untergebenen zur Rauferei untereinander, indem er behauptete, dies sei das beste Mittel, echte Soldaten zu erziehen. Tapferes Verhalten dabei belohnte er mit neuen Handschuhen, gutem Lederzeug und ähnlichen kleinen Geschenken, die er aus eigener Tasche bestritt. Er war ja steinreich. Hiezu pflegte er zu sagen: »Orden vermag ich den Kerlen nicht zu verleihen. Ich bin kein Fürst. Also kann ich sie nur damit dekorieren!« Die Kompagnie, die er führte, stach infolgedessen durch ihr schmuckes Aussehen alle anderen Kompagnien des an und für sich schon glänzenden Garderegiments aus. Er züchtete die Eitelkeit in seinen Leuten geradezu planmäßig. Bekanntlich neigt der französische Soldat sowieso zu Selbstgefälligkeit und Stutzertum, zwei Eigenschaften, die immer etwas Herausforderndes an sich haben: die eine durch den Ton, in dem sie zutage tritt; die andere durch den Neid, den sie erweckt. Und so war es nicht zu verwundern, daß alle anderen Kompagnien im Regiment eifersüchtig auf die Brassardsche waren. Man schlug sich, um in sie hineinzukommen, und man schlug sich immer wieder, um nicht hinauszumüssen.

Derart war Brassards sonderbarer Stand zur Zeit der Wiederherstellung. Daß er über kurz oder lang erledigt sein mußte, war jedermann klar. Man lebte ja nicht mehr unter dem Kaiserreich, wo jeder Tag Gelegenheit zu neuen Heldentaten bot, die alles andere vergeben und vergessen ließen. Seine Kameraden fanden kaum noch Worte über sein Benehmen. Er spielte geradezu mit seinen Vorgesetzten, so wie er ehedem im Felde mit seinem Leben gespielt hatte. Da kam das Jahr 1830 und mit ihm der Umsturz des Staates. Er enthob den Regimentskommandeur des Einschreitens und den tollen Hauptmann der Schande eines schlichten Abschiedes, der mit jedem Tage bedrohlicher über seinem Haupte geschwebt hatte. Als die Julirevolution die Orléans zu Herren des Landes machte, hütete der Hauptmann Brassard gerade das Bett. Er hatte sich auf dem letzten Ball der Herzogin von Berry beim Tanzen den Fuß verstaucht. Aber das hinderte ihn nicht, beim ersten Trommelwirbel zu seiner Kompagnie zu eilen. Da er noch keine hohen Stiefel anziehen konnte, erschien er im Hofballanzug, in seidenen Strümpfen und Lackschuhen, an der Spitze seiner Grenadiere, auf dem Bastillenplatze. Er bekam den Befehl, die Boulevards in ihrer ganzen Länge zu säubern. Barrikaden waren dort keine. Paris sah düster und drohend aus. Es war verödet. Die Sonne brannte wie Feuer. Bald sollte ein anderes Feuer blitzen; denn hinter all den geschlossenen Fensterläden harrten Tod und Verderben auf ihr Losungswort.

Der Hauptmann von Brassard teilte seine Leute in zwei Rotten, die zu beiden Seiten der Straße dicht an den Häusern entlang gingen, so daß sie nur den Schüssen von gegenüber ausgesetzt waren. Er selbst, mehr Dandy denn je, lief mitten auf dem Boulevard dahin. Tausend Flinten, Pistolen und Revolver richteten sich gegen ihn. Er kam bis zur Richelieu-Straße, ohne getroffen zu werden. Da, vor Frascati, an der Ecke der Richelieu-Straße, versperrte ihm die erste Barrikade den Weg. Er gab den Befehl, seine Leute sollten sich um ihn sammeln. Er wollte die Barrikade stürmen. Im selben Augenblick traf ihn eine Kugel in die Brust, die den Feind doppelt herausgefordert hatte, einmal durch ihre Breite und dann durch den Schmuck der Orden und Gardeabzeichen. Und ein Steinwurf zerschmetterte ihm den einen Arm. Gleichwohl nahm er die Barrikade und stürmte an der Spitze seiner begeisterten Leute bis zur Madeleine, die damals noch im Bau war. Auf einem Steinhaufen brach er blutend zusammen. Zwei Damen, die in einem Wagen aus dem Aufruhr der Stadt flüchten wollten, sahen ihn liegen und nahmen ihn mit. Er ließ sich von ihnen zum Gros-Caillou bringen, wo sich der Marschall von Ragusa aufhielt. Ihm meldete er im Diensttone: »Herr Marschall, ich habe vielleicht noch zwei Stunden zu leben. So lange bitte ich mich irgendwo zu verwenden!«

Es kam anders. Er blieb am Leben. Fünfzehn Jahre später hat er mir erzählt: »Was verstehen die Arzte von ihrer Kunst? Damals hat mir der Stabsarzt auf das strengste verboten, während des Wundfiebers Wein zu trinken. Ich habe trotzdem täglich eine Flasche Bordeaux genehmigt. Und nur der hat mich vor dem sicheren Tode gerettet!«

Er trank wie ein Landsknecht. Aber auch im Trinken war er Dandy. Err besaß einen prachtvollen Pokal aus böhmischem Kristall, in den eine ganze Flasche Wein hineinging. Den konnte er mit einem Zuge leeren, so wahr ich hier stehe! Er hat mir übrigens gestanden, daß er alles in diesem Unmaße tue. Ich glaube es ihm. Er war ein zweiter Marschall Bassompierre und ein Zecher wie er. Auch nach dem tollsten Gelage habe ich ihn kaum mehr denn angeheitert gesehen. In seiner leichtfertigen Soldatenart nannte er das: ein bißchen angeschossen sein. Und noch eins. Wozu sollte ich es verheimlichen? Mit meiner Geschichte will ich ja nichts als ein Bildnis des Hauptmanns von Brassard in möglichster Treue geben. Also Brassard, dieser Ritter Blaubart des neunzehnten Jahrhunderts, hatte einstmals zu gleicher Zeit sieben Herzensdamen. Er nannte sie romantisch: die sieben Saiten seiner Leier. Ich billige diese leichtfertige musikalische Art, von seinen Sünden zu sprechen, durchaus nicht. Aber was soll man sagen? Wäre der Hauptmann nicht in allem so gewesen, wie ich Ihnen erzählt habe, dann wäre meine Geschichte eben auch weniger merkwürdig. Oder vielmehr, Sie bekämen dann gar keine zu hören.

  • Text-Herkunft: Gemeinfrei
  • Text-ID 3161
  • Hinzugefügt am 13. Jan 2014 - 12:32 Uhr

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Einsteller: sophie-clark

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2 Kommentare

  1. sophie-clark

    Jules Amédée Barbey d’Aurevilly starb am 23. April 1889 in Paris.

    Quelle:Wikipedia,Jules Amédée Barbey d’Aurevilly

    18. Nov 2015 - 07:45 Uhr

  2. sophie-clark

    Im nächsten Teil:Ein Wiedersehen

    16. Dez 2015 - 20:52 Uhr

 

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