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Sammlung: Johanna Spyri

Aus früheren Tagen Teil 01

1827-1901, Johanna Spyri


 

Aus früheren Tagen.

Wir saßen auf der Bank unter der einsamen Tanne, die leise ihren Wipfel über uns bewegte; es rauschte nicht mehr darin wie vor Zeiten, die Zweige waren dünn und die Nadeln trocken. Die eine Seite des Baumes hatte keine Äste mehr, es war nur ein halber Wipfel. An der Rinde hatten wohl viele Namen gestanden, halb waren sie überwachsen, halb waren noch tiefe Schnitte zu sehen, wie von schwer vernarbten Wunden.

»Wie anders muß der Baum ausgesehen haben in früherer Zeit!« sagte meine Begleiterin.

Ja, wie anders damals, als der Baum in voller Frische neben dem langjährigen Gefährten stand, mit dessen Wurzeln die seinigen verwachsen waren tief in der Erde drinnen. Wie anders, als da droben über Einem die vollen Wipfel in einander rauschten, wenn der Föhn dort zwischen den Bergen herausschoß und die weißen Wolken über den Himmel hinjagte!

Meine Begleiterin erinnerte mich an ein Versprechen, das ich gegeben hatte, etwas aus jener Zeit zu erzählen; doch war das Versprechen unter einer Bedingung gegeben worden, die ich ihr dagegen in Erinnerung brachte, daß eine fern Weilende ihre volle Einwilligung zu der Erzählung gebe. Noch war keine Antwort auf die geschehene Anfrage erfolgt. Einige Zeit nachher langte der erwartete Brief an, es hieß darin:

»Sollte etwas aus meinen Jugendtagen jemandem zur Belehrung dienen können, so mag es immerhin erzählt werden. Bis zu den fernen Hügeln von Wales wird die Erzählung ja nicht gelangen, und im Vaterlande kennt mich kaum einer mehr.«

Der Schluß des Briefes lautete: »Ist Dein Bibelbuch mir auch nicht ganz, was Du wünschest, so denken wir ja darin gleich, daß wir noch nicht am Ende unserer Erkenntnis sind. Für einmal habe ich die Befriedigung, eine Lebensweisheit in dem Buche zu finden, die mich immer neu überrascht und die unerschöpflich scheint.

Klara.«

I.

Am Abhange des Bergrückens, auf dem die kleine Kirche des Dörfchens steht, vom Pfarrhaus und einigen anderen ländlichen Wohnungen umgeben, schaut durch die grünen Bäume ein stattliches Bauernhaus, das heißt: der Hennenhof. Lustig gackern auch die alten Hennen mit ihren Scharen von Jungen im Hof um den Brunnen herum, wenn es da noch zugeht wie vor Zeiten. Wenige Schritte vom Haus entfernt steht die große Scheune mit den vielen Kühen darin und dem duftendenHeu hoch oben auf dem Boden, wohin die haushohe Leiter führt, die mit ihrem Locken nach unbekannten Höhen eine unüberwindliche Anziehungskraft ausübte auf unsere strebsamen Gemüter. Der anmutigste Aufenthalt des ganzen Geländes war aber für uns der sogenannte Schopf, eine hölzerne Gebäulichkeit, zwischen Haus und Scheune stehend, in deren unterem Raume allerlei ländliche Gerätschaften aufbewahrt wurden. Eigentlich war dieser Raum bestimmt, die unbenutzten Leiterwagen zu beherbergen; aber Pflüge, Sensen, Holzkörbe, Wasserschöpfer und viele namenlose Gegenstände waren dazwischen gelagert in den überraschendsten Stellungen. Es war ein gedankenanregender Aufenthalt, aber in noch viel höherem Maße war dies der Fall mit dem oberen Boden, wohin eine hölzerne Treppe führte, und wo ganze Schätze rätselhafter Dinge aufgehäuft lagen. Das Erkennbarste waren große Torfhaufen, hochaufgeschichtete Strohwellen, Thürme von Hobelspänen, Verschläge mit Korn und Sämereien – eine unvergleichliche Fundgrube für eine arbeitende Einbildungskraft. In den Hintergründen war beständig ein Knistern und Raspeln zu hören, das unabweisbar das Walten geheimnisvoller Mächte bekundete, deren Dasein uns fortwährend mit einer Art erwartungsvollem Schauer erfüllte, was uns den Raum um so anziehender machte. Später entdeckten wir freilich, daß jene unsichtbaren Mächte Mäuse waren, aber der Ort war schöner, ehe man dies wußte.

Eine herrliche Einrichtung waren die großen Fensteröffnungen, die breit und hoch, fast wie kleine Thüren waren, auch immer weit offen standen; denn da war kein Glas, nur des Nachts wurden die ungeheuren Balken zugeschlagen. Von außen her ragte beinahe bis zu der Fensterbrüstung empor der hochaufgeschichtete Holzberg, von klein gesägten Stücken sauber aufgebaut. Ein Laden lag darüber vor dem einen Fenster, da stand eine Reihe der schönsten dunkelroten Nelken, die hatten eine so warme Farbe und so gewürzigen Duft, daß sie mir jederzeit das Herz erfreuten; aber wenn die Abendsonne auf die Nelken schien, und sie wie lauter Rubinen flammten, dann wußte ich nichts Schöneres.

So standen die Blumen im scheidenden Sonnenlicht, als wir dort oben saßen am leuchtenden Herbstabend, die Tochter des Hennenhofes, die blauäugige Marie, und ich. Wir saßen auf der Fensterbrüstung, aber nach außen gekehrt, den aufgetürmten Holzstoß als Fußschemel benutzend und weit ins Land hinausschauend von unserem hohen Sitz herab.

Wir waren sehr befreundet, Marie und ich. Manch sonnigen Sommerabend hatten wir da droben verlebt, und auch die Regentage verscheuchten uns nicht aus unserem Reich; das waren die Zeiten der Entdeckungsreisen im Schopf herum.

Der Hennenhof war ein ansprechendes Bauernhaus, es hatte einen stillen, soliden Charakter. Die Leute redeten ruhig mit einander, Vater und Mutter machten wenig Worte, aber sie galten. Die würdige alte Großmutter war die Hauptperson im Hause, von jedermann hochgeachtet und mit Recht. Der Stempel der Wohlhabenheit, der Ordnung und unveränderlicher Haussitte war den Personen wie den Dingen des Hennenhofes aufgedrückt. Ein Hauch religiöser Weihe, von der Großmutter ausgehend, durchwehte die ganze Häuslichkeit.

Ich kannte das Haus in- und auswendig und wußte perfekt, was in diesem Moment drinnen geschah, während Marie und ich auf der Fensterbrüstung saßen in vergnüglicher Beschaulichkeit. Nun mußte in der Stube die Abendsonne einen langen Strahl über den Fußboden werfen, auf der Bank am Fenster saß die alte Großmutter und strickte an einem blauen Strumpf. Auf dem breiten Gesimse neben ihr, das immer sauber gescheuert war, lagen unveränderlich die Bibel, das Gesangbuch und Arndts »wahres Christentum«. Die Mutter kochte das Abendessen nebenan in der Küche, machte von Zeit zu Zeit die Thür nach der Stube auf und rüstete den Tisch zum Abendbrod. Das that sie alles ohne Geräusch, sie ging auch immer leise und bedächtig hin und her. Der Vater war mit den Knechten und Tagelöhnern auf dem Felde, der große Hof brauchte viele Hände zur Bearbeitung. So ging es einen Tag wie den andern im Hennenhof zu. Diese Unveränderlichkeit hatte etwas sehr Beruhigendes; für vielbewegte Kinderherzen sind feste Zustände und stetiges Wesens besonders wohlthuend.

Auch am Sonntag saß die Großmutter an demselben Platz auf der Bank, aber dann hatte sie eines der drei Bücher vor sich auf dem Tisch und die große Brille im Gesicht.

Marie war gerade so alt wie ich; wir hielten von jeher zusammen, erst als Spiel-, dann als Schul-, nun schon als Lebensgenossinnen. Viel Freud und Leid hatten wir schon geteilt zusammen, obschon wir bis dahin immer noch das Recht hatten, Kinder zu sein, was auf dem Lande länger dauert als in der Stadt, und wir waren dessen froh mit unseren vierzehn Jahren.

Marie war ein sanftes, gutgeartetes und wohlerzogenes Mädchen; Mutter und Großmutter hielten auf Zucht und wohlanständiges Wesen. Sie sah auch immer sehr ordentlich aus, die krausen blonden Haare um die Stirn standen ihr gut, wurden aber immer sorgfältig glatt um die Schläfe gestrichen. Ihr einfach natürliches Wesen und ihre ruhige, immer besonnene Weise machten sie mir besonders angenehm. Marie war aber von jedermann gern gelitten, denn Herzensgüte und Freundlichkeit waren in all' ihrem Thun.

Der Septemberabend war lieblich. Lange saßen wir und schauten um uns ohne ein Wort zu sagen. Von der Halde herauf ertönten die Glocken der weidenden Kühe, ein goldener Herbstschmelz lag auf der Wiese und über den Baumwipfeln vor uns. Durch die Stille tönte hin und wieder das Fallen einer reifen Frucht vom alten Birnbaum, auf den eben die letzten Sonnenstrahlen fielen, so daß wir die großen Birnen goldgelb aus den Blättern schimmern sahen.

»Wenn wir die Birnen holten?« meinte Marie, unser Schweigen unterbrechend.

Ich war unbedingt einverstanden und gleich die Treppe hinunter. In kürzester Zeit hatten wir die weichen Früchte gesammelt, saßen auch schon wieder auf unserer Festung und gingen ans Werk. Niemals schmeckten Birnen wie diese, so duftig und sonnensüß.

»Ich wollte Dich fragen,« sagte Marie nach einer Weile stillen Genusses, »ob Du mir einen Gefallen thun wolltest?«

»Ja natürlich,« sagte ich unbedenklich, durch den schönen Abend und die süßen Birnen liebevoll gestimmt, »sag' nur schnell, welchen!«

»Weißt Du,« sagte sie, »auf den Frühling kommt der neue Herr Pfarrer, den sollen wir mit Gesang empfangen; da müssen nun alle Kinder singen lernen, und weil unser alter Lehrer es selbst nicht kann, so sollen wir alle eine Zeit lang zur Singschule gehen nach dem Rain, jeden Sonntag Nachmittag. Dies hat uns gestern der Lehrer angezeigt, als Du nicht da warst. Nun weiß ich schon,« fuhr Marie etwas zögernd fort, »daß Du daheim singen lernen kannst; aber ich hätte gern, Du kämest mit mir. So allein nach der fremden Schule gehen, mag ich nicht, und mit jedem mag ich auch nicht gehen.«

Marie war heimlich ein bischen Aristokratin. Die Bitte kam mir ein wenig ungelegen. Vor dem Jahre hatte der Lehrer am Rain uns Geschwistern einen Kurs Singstunden gegeben und uns einen Monat lang täglich singen lassen: »Wer nur den lieben Gott läßt walten.« Die Erinnerung war mir etwas peinlich. So zu denken einen ganzen Monat lang, und noch länger, ist ja recht gut, aber singen, immerfort nach derselben Melodie – nein, das war zuviel und mußte alle Gesangslust im Keim ersticken. Aber ich hatte ja schon zugesagt, auch würde es nicht lange währen, und die Gänge durch die schönen Herbstsonntage waren eher lockend. Ich schlug also ein, wenigstens bis zum Winter für einmal. Marie war's zufrieden, gleich am Sonntag würde sie mich abholen.

Jetzt hörten wir die gewichtigen Tritte des Vaters und der Arbeiter von der Scheune her, was gewöhnlich das Zeichen zu unserer Trennung gab; es war die Zeit des Abendessens.

  • Text-Herkunft: Gemeinfrei
  • Text-ID 2510
  • Hinzugefügt am 02. Sep 2013 - 21:23 Uhr

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Einsteller: sophie-clark

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