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Sammlung: Herman Melville

Bartleby Teil 01

1819-1891, Herman Mellville

Ich bin, ich muß es gestehn, nicht mehr der Jüngste. Die Art meiner Berufsgeschäfte hat mich seit nunmehr dreißig Jahren in ungewöhnlich enge Berührung mit einer in mancher Hinsicht merkwürdigen, man kann wohl sagen sonderbaren Sorte von Menschen gebracht, über die meines Wissens noch nie etwas geschrieben worden ist – ich meine die Anwaltsschreiber, die Kopisten in den Kanzleien der Advokaten. Ich habe ihrer eine ganze Menge gekannt, beruflich sowohl wie privat, und könnte, wenn ich wollte, allerlei Historien zum besten geben, zur Erheiterung wackerer Männer, zur tränenseligen Rührung empfindsamer Seelen. Doch will ich aller anderen Kanzleischreiber Lebensgeschichte beiseitelassen und nur einiges aus Bartlebys Leben erzählen, Bartlebys, der ein Schreiber war und zwar der seltsamste, den ich je gesehen, von dem ich je gehört habe. Während ich von anderen Anwaltskopisten den gesamten Lebenslauf niederschreiben könnte, ist bei Bartleby dergleichen nicht möglich. Es existieren wohl überhaupt keine Unterlagen für eine ausführliche, befriedigende Biographie des Mannes: ein unersetzlicher Verlust für die Literatur. Bartleby gehörte zu den Menschen, über die sich nichts ermitteln läßt, es sei denn an den Quellen selbst, und die flossen in seinem Fall nur äußerst spärlich. Was ich mit eigenen erstaunten Augen von Bartleby gesehen habe, das stellt meine gesamte Kenntnis von ihm dar – abgesehen allerdings von einem ziemlich unbestimmten Bericht, der später hier wiedergegeben werden wird.

Bevor ich unseren Schreiber aber einführe, so wie er mir zuerst vor Augen trat, empfiehlt es sich wohl, daß ich erst kurz von mir selber spreche, meinen Angestellten, meinem Büro und allem Drum und Dran – denn eine gewisse Aufklärung darüber ist unentbehrlich für ein richtiges Verständnis der nachher vorzustellenden Hauptperson. Zuvörderst: ich bin ein Mensch, der von Jugend an tief davon überzeugt war, daß man mit einer gemächlichen, sachten Lebensweise am besten fährt. Mag ich also einem Beruf angehören, dem landläufig ein zupackendes, hastiges, ja zuzeiten aufgeregtes Wesen nachgesagt wird, so habe ich doch nie geduldet, daß dergleichen Regungen meinen Frieden störten. Ich zähle zu den Anwälten ohne Ehrgeiz: man wird mich nie vor Gericht plaidieren oder irgendwie auf den Beifall der großen Menge ausgehen sehen, sondern in der kühlen Stille einer behaglichen Klause beschäftige ich mich behaglich mit den Wertpapieren, Hypotheken und Rechtsansprüchen reicher Leute. Unter meinen Bekannten gelte ich ganz allgemein als ein in hohem Maße zuverlässiger Mensch. Der verstorbene John Jacob Astor, eine poetischem Überschwang wenig geneigte Persönlichkeit, trug kein Bedenken, als meine erste hervorstechende Wesenseigentümlichkeit die Vorsicht zu bezeichnen; die zweite sei das planvolle Denken. Nicht um mich dessen zu berühmen, sondern als einfache Tatsache berichte ich bei dieser Gelegenheit, daß ich nicht ohne berufliche Beziehungen zu dem verewigten John Jacob Astor gewesen bin. Seinen Namen, ich gestehe es, wiederhole ich gern; er hat einen runden, sphärenhaften Klang, wie Klirren von Goldbarren. Hinzufügen möchte ich, daß ich für die gute Meinung des seligen John Jacob Astor nicht unempfänglich war.

Schon eine Weile vor dem Zeitpunkt, an dem meine kleine Geschichte beginnt, hatten meine Berufsgeschäfte einen erheblich größeren Umfang angenommen. Das gute alte, im Staat New York inzwischen abgeschaffte Amt eines Beisitzers im Kanzleigericht war mir übertragen worden. Es war nicht mit allzu großen Mühen verbunden, warf aber einen recht angenehmen Ertrag ab. Ich lasse mich nur selten aus der Ruhe bringen und gestatte mir noch seltener eine unbekömmliche Entrüstung über Unrecht und Kränkung; indes in diesem Fall muß ich um Nachsicht für ein erregtes Wort bitten und rundheraus erklären, daß die in der neuen Verfassung verfügte plötzliche und brüske Abschaffung des Amtes eines Beisitzers beim Kanzleigericht in meinen Augen eine – sagen wir eine überstürzte Maßregel darstellt, schon deshalb, weil ich auf einen lebenslänglichen Genuß der Einkünfte gerechnet hatte, während ich sie nun lediglich für ein paar kurze Jahre bezogen habe. Aber dies nebenbei.

Meine Kanzlei befand sich im Oberstock des Hauses Wall Street Nro –. Auf der einen Seite schaute man auf die weiße Wand eines geräumigen Lichtschachts, der das Gebäude von oben nach unten durchzog. Die Aussicht mochte einen vergleichsweise unfrohen Eindruck machen; da ihr ganz fehlte, was in der Sprache der Landschaftsmaler »Leben« heißt. In dieser Hinsicht bot die Aussicht auf der anderen Seite meiner Kanzlei zum mindesten einen Gegensatz, wenn auch keinen Ausgleich. Die in diese Richtung weisenden Fenster gewährten die unbehinderte Aussicht auf eine hohe, von Alter und dauerndem Schatten schwarz gewordene Ziegelmauer; es bedurfte keines Spiegelscherbens, sogenannten Spions, die verborgenen Schönheiten dieses Gemäuers ans Licht zu bringen, denn zum Wohle aller kurzsichtigen Beschauer ragte die Mauer keine zehn Fuß vor meinen Fensterscheiben empor. Bei der großen Höhe der umliegenden Gebäude und dank dem Umstand, daß sich meine Kanzlei im zweiten Stock befand, gemahnte der Zwischenraum zwischen der Ziegelmauer und unserer Hauswand nicht wenig an einen ungeheuren viereckigen Wasserschacht.

In der Zeit unmittelbar vor Bartlebys Auftreten hatte ich in meiner Kanzlei zwei Kopisten und einen vielversprechenden Jüngling als Bürolehrling. Nummer eins: Turkey – »Puter«; Nummer zwei: Nippers – »Beißzange«; Nummer drei: Ginger Nut – »Pfeffernuß«. Das sind gewiß Namen, derengleichen man im allgemeinen nicht im Adreßbuch findet. Es handelte sich denn auch um Spitznamen, die sich meine drei Angestellten gegenseitig beigelegt hatten, da sich in ihnen die jeweiligen Persönlichkeiten und Wesenseigentümlichkeiten aufs treffendste ausdrückten. Puter war ein untersetzter, asthmatischer Engländer in meinem Alter – das heißt also hart an sechzig. Des Morgens zeigte sein Gesicht, wie man wohl behaupten darf, eine schöne blühende Farbe; nach zwölf Uhr Mittags aber – seiner Essensstunde – flammte es wie ein Kohlenrost zur Weihnachtszeit und zwar – wenn auch vielleicht mit einem allmählichen Abnehmen der Glut – weiter bis sechs Uhr nachmittags. Nach sechs sah ich nichts mehr vom Eigentümer des Gesichtes, das mit der Sonne seinen Zenit erklomm und mit ihr offenbar unterging, am nächsten Tag aufstieg, kulminierte und abermals unterging, in sonnengleicher Regelmäßigkeit und unverminderter Glorie. Ich habe im Laufe meines Lebens allerlei merkwürdige Zufälligkeiten erlebt, und es war gewiß nicht die geringste darunter, daß immer in dem Augenblick, wenn Puter aus seinem roten, leuchtenden Gesicht den vollsten Strahlenglanz entsandte, daß immer in diesem kritischen Moment der Tagesabschnitt begann, da ich mir sagen mußte, daß nun für den Rest der vierundzwanzig Stunden seine Arbeitsfähigkeit wieder auf das empfindlichste gestört sein würde. Nicht als ob er in Untätigkeit versunken wäre oder sich arbeitsunwillig gezeigt hätte – keineswegs. Die Schwierigkeit bestand vielmehr darin: er neigte nun zu einem allzu großen Energieaufwand. Eine seltsame, erhitzte, verworrene und ziellose Betriebsamkeit überkam ihn. Ohne alle Vorsicht tauchte er seine Feder ins Tintenfaß. Seine sämtlichen Tintenkleckse auf meinen Schriftlichkeiten brachte er nach zwölf Uhr mittags an. Nicht genug damit, daß er des Nachmittags unaufmerksam wurde und in betrüblicher Weise zum Klecksen neigte, er ging an manchen Tagen noch weiter und schlug ziemlichen Lärm. Dann flammte sein Gesicht in gesteigertem Wappenglanz, als hätte man Kannelkohle auf Anthrazit geschüttet. Er vollführte unsympathische Geräusche mit seinem Stuhl, er verschüttete den Streusand und schnitt beim Zurichten seiner Schreibfedern in seiner Ungeduld die Kiele völlig zuschanden, worauf er plötzlich wütend wurde und die Stücke auf die Erde schmiß. Auch sprang er beständig auf, lehnte sich über seinen Tisch und ließ die Papiere wüst umherfahren, ein bei einem älteren Mann wie ihm besonders widriger Anblick. Da er mir jedoch in vieler Hinsicht außerordentlich wertvoll war und während der ganzen Zeit vor zwölf Uhr mittags sich durchaus aufgeweckt und solid erzeigte, auch ein großes Arbeitspensum in vorzüglicher, kaum zu übertreffender Weise hinter sich brachte – aus allen diesen Gründen war ich gewillt, über sein überspanntes Wesen hinwegzusehen, wenn ich ihm auch gelegentlich einmal Vorhaltungen machte. Ich ging dabei stets mit aller Milde zu Werk, weil er – des Morgens die Höflichkeit, ja ich muß schon sagen die Sanftmut und Ehrerbietung selbst – am Nachmittag dazu neigte, im Falle einer Herausforderung mit Worten etwas unbesonnen, ja offen gesagt unverschämt zu werden. Da ich also, wie gesagt, seine vormittäglichen Dienste schätzte und nicht zu entbehren gedachte (gleichzeitig aber von seinem erhitzten Wesen nach der Mittagsstunde unangenehm berührt war) und als ein friedliebender Mensch mir nicht durch meine Ermahnungen unpassende Antworten von ihm zuziehen mochte, so entschloß ich mich an einem Sonnabendmittag (am Sonnabend war es immer besonders schlimm mit ihm), ihm in aller Güte anzudeuten, daß es vielleicht jetzt, wo er in die Jahre käme, angebracht sei, seine Arbeitszeit abzukürzen: er brauche, kurz gesagt, nach zwölf Uhr nicht mehr ins Büro zu kommen, sondern solle sich nur ruhig nach dem Mittagessen nach Hause begeben und bis zum Tee ausruhen. Aber nein: er bestand darauf, auch nachmittags seine Pflicht zu tun. Sein Gesicht erhitzte sich aufs unleidlichste, während er mir, am anderen Ende des Zimmers mit einem langen Lineal herumfuchtelnd, in wohlgesetzten Worten auseinandersetzte, wenn seine Dienste am Vormittag von Nutzen seien, dann müßten sie ja am Nachmittag vollends unentbehrlich sein.

»Mit aller schuldigen Ehrerbietung, Sir«, sagte Puter bei dieser Gelegenheit, »aber ich halte mich offengestanden für Ihre rechte Hand. Vormittags exerziere und marschiere ich ja nur mit meinen Kolonnen – aber nachmittags, da stelle ich mich an ihre Spitze und mache eine zügige Attacke auf den Feind, so« – und damit vollführte er einen heftigen Stoß mit dem Lineal.

»Aber die Tintenkleckse, Puter!« gab ich zu bedenken.

»Richtig! – Aber mit aller schuldigen Ehrerbietung, Sir: Schauen Sie diese Haare an! Ich werde alt. Ich möchte doch meinen, Sir, daß ein paar Tintenkleckse an einem heißen Nachmittag einem alten Mann mit grauen Haaren nicht so hart zum Vorwurf gemacht werden dürfen. Das Alter, auch wenn es Tintenflecke macht, verdient Ehrfurcht. Mit aller schuldigen Ehrerbietung, Sir: wir werden beide alt!«

Diesem Appell an meine kameradschaftliche Gesinnung konnte ich schwer widerstehen. Das eine sah ich jedenfalls, daß er nicht gehen würde. Also entschloß ich mich, ihn zu behalten, wobei ich allerdings mein Augenmerk darauf richtete, daß er am Nachmittag mit meinen minder wichtigen Papieren beschäftigt wurde.

Nippers – »Beißzange« – der zweite auf der Liste, war ein mit seinem Backenbärtchen und seiner gelblichen Gesichtsfarbe einigermaßen seeräuberhaft aussehender junger Mann von fünfundzwanzig Jahren. Nach meinem Dafürhalten war er das Opfer zweier böser Mächte – des Ehrgeizes und der Verdauungsstörungen. Der Ehrgeiz bekundete sich bei ihm in einer gewissen Unlust an den Berufspflichten eines gewöhnlichen Kopisten, in einem unverantwortlichen Übergreifen auf Arbeiten, die dem Fachmann vorbehalten bleiben müssen, wie z. B. das Abfassen rechtsgültiger Urkunden. Seine Verdauungsschwäche drückte sich aus in einer gelegentlichen nervösen Unverträglichkeit und hämischen Reizbarkeit, wobei es denn vorkam, daß er bei Abschreibefehlern hörbar mit den Zähnen knirschte; auch äußerte er in der Hitze der Arbeit unnötige Fluchworte, die er übrigens mehr zischte als wirklich aussprach, und lag vor allem in beständiger Fehde mit der Höhe seines Arbeitstisches. Beißzange war zwar in technischen Dingen erfinderisch und begabt, mit seinem Tisch aber vermochte er nie zurechtzukommen. Er legte Späne, Holzblöckchen der erdenklichsten Art und Kartonstücke unter und versuchte es schließlich mit einer besonders tadellosen Abstimmung, indem er einige Lagen zusammengefaltetenFließpapiers verwendete. Nichts wollte fruchten. Rückte er, um seinen Rücken zu schonen, den Pultdeckel in scharfem Winkel bis dicht unter sein Kinn und schrieb darauf, wie einer der das steile Dach eines Holländer Hauses als Pult benützt, dann vernahm man bald die Klage von ihm, daß ihm in dieser Haltung die Arme klamm würden. Senkte er aber alsdann die Tischplatte bis zu Gürtelhöhe und saß beim Schreiben vornübergebeugt, dann bekam er sogleich Rückenschmerzen. Mit einem Wort: Beißzange wußte in Wahrheit nicht, was er wollte. Oder wenn er überhaupt etwas wollte, so dies: vom Schreiberpult überhaupt freizukommen. Zu den Bekundungen seines krankhaften Ehrgeizes gehörte es, daß er mit Vorliebe Besuch empfing, und zwar von allerlei zweideutig aussehenden Gesellen in schäbigen Anzügen, die er als seine Klienten bezeichnete. Ich mußte überhaupt erkennen, daß er sich nicht nur gelegentlich als Winkelpolitiker betätigte, sondern sich dann und wann auch bei den Gerichtshöfen zu schaffen machte und an der Pforte der »Gräber«, des Stadtgefängnisses, nicht unbekannt war. Von einem Individuum allerdings, das ihn in meiner Kanzlei aufsuchte und das er nachdrücklich und mit viel Wichtigkeit als seinen Klienten bezeichnete, möchte ich mit gutem Grund annehmen, daß es in Wahrheit einfach ein Gläubiger war und daß es sich bei seinem angeblichen Rechtstitel um eine Rechnung handelte. Bei allen seinen Mängeln aber und den Unannehmlichkeiten, die er mir verursachte, war Beißzange mir doch, wie sein Landsmann Puter, im ganzen recht nützlich. Er schrieb eine rasche und saubere Hand und ließ es, wenn er danach gelaunt war, an einem weltmännischen Benehmen nicht fehlen. Es kam hinzu, daß er sich immer durchaus herrschaftlich kleidete und dadurch beiläufig einen gewissen Kredit der Vertrauenswürdigkeit auf meine Kanzlei ausstrahlte. Mit Puter hingegen hatte ich meine liebe Not, zu verhüten, daß er für mich eine Art Schandfleck wurde. Seine Kleidungsstücke sahen immer fleckig aus und rochen nach Speisehaus. Den Sommer über trug er seine Hosen entsetzlich lasch und ausgebeult; seine Überröcke spotteten jeder Beschreibung und seinen Hut konnte man nur mit der Feuerzange anfassen. Der Hut war für mich nun allerdings verhältnismäßig gleichgültig, denn als einen an Abhängigkeit gewöhnten Engländer veranlaßte ihn seine natürliche Höflichkeit und Demut, seine Kopfbedeckung abzunehmen, sowie er das Zimmer betrat; mit dem Rock aber war es eine andere Sache. Ich machte ihm diesbezüglich Vorhaltungen, aber ohne jeden Erfolg. In Wahrheit war es wohl so, daß ein Mann mit so geringem Einkommen nicht gleichzeitig ein üppiges Gesicht und einen üppigen Rock spazieren führen konnte. Wie Beißzange einmal bemerkte, ging Puters Geld größtenteils für »rote Tinte« drauf. An einem Wintertag schenkte ich Puter einen sehr gediegen aussehenden Rock aus meinem eigenen Bestand – einen wattierten grauen Rock, der sehr angenehm warm hielt und den man vom Hals bis zu den Knieen zuknöpfen konnte. Ich dachte, Puter würde die Freundlichkeit zu schätzen wissen und sein an Nachmittagen übliches vorschnelles und lärmiges Wesen dementsprechend dämpfen. Aber nein: ich möchte geradezu annehmen, daß es eine verhängnisvolle Wirkung bei ihm hervorrief, sich nun in einen derart flaumigen und einer Bettdecke ähnelnden Rock einknöpfen zu können – nach demselben Grundsatz, nach dem zu viel Hafer den Pferden schlecht bekommt. Wie man ja auch von einem jähen und eigensinnigen Gaul sagt, daß ihn der Haber sticht, so stach unseren Puter sein Rock. Er wurde übermütig. Er war ein Mensch, dem das Wohlleben zum Nachteil gereichte.

Während ich Puters heimlichen persönlichen Neigungen gegenüber meine eigenen Vermutungen hegte, war ich von Beißzange allerdings völlig überzeugt, daß er, unbeschadet seiner sonstigen Fehler, wenigstens in puncto Alkohol ein mäßiger junger Mensch war. Indessen schien in seinem Fall die Natur selbst die Rolle des Weinlieferanten übernommen zu haben: sie hatte ihn schon bei der Geburt mit einem derart reizbaren, branntweinartigen Temperament ausgestattet, daß es bei ihm eines nachträglichen Kneipens gar nicht mehr bedurfte. Wenn ich mir überlege, wie Beißzange oft mitten in der Stille der Kanzlei ungeduldig von seinem Sitz aufsprang, sich über den Tisch beugte, die Arme weit ausbreitete, das Pult schlankweg aufpackte und mit einem bösen Knirschen über den Fußboden schob oder eigentlich schleuderte, als wäre der Tisch ein widerspenstiger Kanzleidiener, der ihm absichtlich Ärger und Schwierigkeiten machte, dann wird mir aufs neue klar, daß bei ihm Kognaksoda durchaus überflüssig war.

Einen Glücksumstand für mich bedeutete es, daß sich Beißzanges Reizbarkeit und dadurch verursachte Nervosität auf Grund ihres besonderen Anlasses – nämlich der Verdauungsbeschwerden – vorzüglich am Vormittag bemerkbar machte, während er nachmittags verhältnismäßig milde war. So hatte ich, da Puters Anfälle ja erst um die Mittagszeit zum Durchbrach kamen, wenigstens nie zu gleicher Zeit mit ihnen beiden in ihrem überspannten Zustand zu tun. Ihre Zustände lösten einander ab wie die Wachtparade. War Beißzange im Dienst, so hatte Puter dienstfrei und umgekehrt. Das war, wie die Dinge lagen, von der Natur gut eingerichtet.

Ginger Nut – »Pfeffernuß« – der Dritte auf meiner Liste, war ein Bürschlein von etwa zwölf Jahren. Sein Vater war Fuhrmann und hegte den Ehrgeiz, seinen Sohn vor seinem Tode auf der Gerichtsbank statt auf dem Kutschbock zu sehen. Er schickte ihn zu diesem Zweck zu mir auf die Kanzlei, als Rechtsstudent, Laufjunge, Bodenputzer, gegen einen Lohn von einem Dollar die Woche. Er hatte ein eigenes kleines Pult, war aber nicht viel daran zu sehen. Seine Schublade wies bei näherer Untersuchung eine große Auswahl von Nußschalen der verschiedensten Sorten auf. Die gesamte edle Rechtswissenschaft war denn auch für diesen hellköpfigen Jüngling gewissermaßen in einer Nußschale enthalten. Nicht die geringste unter Ginger Nuts Obliegenheiten – und zwar eine, deren er sich mit der größten Fixigkeit entledigte – war seine Stellung als Kuchen- und Äpfeleinkäufer für Puter und Beißzange. Das Abschreiben von Akten ist ja ein sprichwörtlich trockenes, halsausdörrendes Geschäft, und so waren auch meine zwei Schreiber oft genug von dem Bedürfnis befallen, sich den Mund mit Spitzenberger Äpfeln zu befeuchten, die es in den zahlreichen Buden in der Nähe des Zollgebäudes und des Postamts zu kaufen gab. Auch schickten sie Pfeffernuß häufig nach jener besonderen Sorte von Gebäck – klein, flach, rund und stark gewürzt –, nach dem sie ihm seinen Namen gegeben hatten. An kalten Vormittagen, wenn geschäftlich nicht viel los war, verschlang Puter die Pfeffernüsse zu Dutzenden, als wären es bloße Oblaten – der übliche Verkaufspreis beträgt ja auch nur einen Penny für sechs bis acht Stück – und das Kratzen seiner Feder vermischte sich dann mit dem Krachen der mürben Kuchenteilchen in seinem Munde. Zu den vielen nachmittäglichen Hitzköpfigkeiten und Wahnsinnstaten Puters gehörte es, daß er einmal eine Pfeffernuß zwischen den Lippen befeuchtete und als Siegel auf einen Pfandbrief klebte. Damals hätte ich ihn um ein Haar entlassen. Er besänftigte mich aber, indem er eine orientalische Verbeugung machte und sagte: »Mit aller schuldigen Ehrerbietung, Sir – aber es war doch eigentlich nobel von mir, daß ich Sie aus eigenem Bestand mit Büromaterial versehen habe!«

Wie sich denken läßt, nahm mein ursprünglicher Geschäftsbereich – als Spezialist für Liegenschaftssachen, Fachmann für ungeklärte Besitzverhältnisse und Abfasser tiefgründiger Urkunden aller Art – nach meiner Betrauung mit dem Beisitzeramt erheblich an Umfang zu. Für Schreibhilfen hatte ich nun eine Menge zu tun. Ich mußte nicht nur die bei mir befindlichen Angestellten mächtig antreiben; auch eine zusätzliche Hilfe war nicht länger zu entbehren.

Auf eine Zeitungsanzeige hin stand eines Morgens ein steifleinener junger Mensch auf der Schwelle meiner Kanzlei, denn es war Sommer und die Tür stand offen. Ich sehe seine Gestalt noch heute vor mir – ausdruckslos sauber, erbarmungswürdig achtbar, hoffnungslos einsam. Es war Bartleby.

Nach einer kurzen Unterhaltung über seine Fähigkeiten stellte ich ihn ein, recht zufrieden, daß ich der Schar meiner Kopisten einen Menschen von so ungemein gesetztem Aussehen einverleiben konnte – einen Mann, dessen Art nach meiner Erwartung wohltätig auf Puters regelloses und Beißzanges feuriges Temperament einwirken würde.

Ich hätte schon vorher erzählen sollen, daß Flügeltüren aus Mattglas meine Kanzleiräume in zwei Hälften teilten, von denen die eine von meinen Schreibern, die andere von mir eingenommen wurde. Je nach meiner augenblicklichen Stimmung ließ ich die Türen offen oder geschlossen. Bartleby wies ich kurz entschlossen eine Ecke in der Nähe der Tür zu, jedoch auf meiner Seite, damit ich diesen stillen Menschen in bequemer Rufweite hätte, wenn irgend eine Kleinigkeit zu erledigen wäre. Ich stellte sein Pult in die Nähe eines kleinen Seitenfensterchens, durch das man ursprünglich auf einige schmutzige Hinterhöfe und Ziegelmauern hatte sehen können, das aber jetzt, da inzwischen gebaut worden war, überhaupt keine Aussicht mehr bot, nur noch ein wenig Licht. Drei Fuß vor dem Fenster erhob sich eine Wand, und das Licht kam von hoch oben, zwischen zwei hohen Gebäuden, wie durch eine schmale Öffnung in einer Kuppel. Um die Sache weiter zufriedenstellend einzurichten, brachte ich einen hohen grünen Wandschirm an, durch den Bartleby meinem Blick völlig entzogen wurde, während er meiner Stimme erreichbar blieb. Auf diese Weise waren, soviel als möglich, Abgeschlossenheit und Geselligkeit vereint. Anfangs erledigte Bartleby ganz erstaunliche Mengen von Schreibarbeit. Als hungere er seit langem nach Kopierarbeiten, fraß er sich förmlich voll mit meinen Dokumenten. Zur Verdauung blieb keine Zeit. Er kopierte Tag und Nacht, bei Sonne und bei Kerzenlicht. Mir hätte sein Eifer recht gut gefallen, wenn es nur ein richtiger, mit Heiterkeit gepaarter Fleiß gewesen wäre. Er schrieb indessen still vor sich hin, bleich und mechanisch.

Wie sich denken läßt, gehört es wesentlich zur Arbeit eines Schreibers, daß er die Richtigkeit seiner Abschrift Wort für Wort nachprüft. Wo sich zwei oder mehr Schreiber in einer Kanzlei beisammenfinden, helfen sie sich gegenseitig bei dieser Arbeit, indem einer die Abschrift vorliest, während der andere das Original vergleicht. Eine sehr öde, ermüdende und eintönige Tätigkeit, die, möchte ich meinen, für manche Menschen von sanguinischem Temperament ganz unerträglich sein muß. Zum Beispiel kann ich mir schwer vorstellen, daß sich Byron, dieser Dichter und Feuergeist, in aller Ruhe mit Bartleby zusammen hingesetzt hätte, um ein juristisches Schriftstück von, sagen wir, fünfhundert engbeschriebenen Seiten zu kollationieren.

Dann und wann, wenn wir eilig zu tun hatten, beteiligte ich mich auch selbst am Kollationieren eines kürzeren Schriftstücks und rief dann Puter oder Beißzange zu diesem Zweck zu mir. Als ich Bartleby so praktisch hinter den Wandschirm in meiner Nähe verwies, hatte ich unter anderem auch den Zweck im Auge, mich bei derartigen rasch zu erledigenden Anlässen seiner Dienste zu versichern. Am dritten Tage wohl, an dem er bei mir war, und bevor sich noch die Notwendigkeit ergeben hatte, die von ihm gelieferten Schreibarbeiten zu kollationieren, wollte ich einen kleinen Vorgang, an dem ich eben arbeitete, rasch zu Ende bringen und rief kurzerhand nach Bartleby. Da ich es eilig hatte und begreiflicherweise daran gewöhnt war, daß meinen Wünschen sofort entsprochen wurde, hielt ich den Kopf tief über die Urschrift auf meinem Schreibpult gebeugt und streckte nur, vielleicht etwas ungeduldig, die rechte Hand mit der Kopie seitwärts aus, damit Bartleby, wenn er aus seinem Versteck hervorkäme, sogleich danach greifen und ohne den geringsten Verzug ans Werk gehen könnte.

In dieser Haltung also saß ich da, als ich nach ihm rief, und setzte ihm in aller Eile auseinander, was, ich von ihm wünschte – mir nämlich beim Vergleichen eines kleineren Schriftstücks zu helfen. Man stelle sich meine Überraschung, ich muß schon sagen meine Bestürzung vor, als Bartleby, ohne sich aus seiner Klause zu rühren, mit seltsam sanfter, fester Stimme zur Antwort gab: »Ich möchte lieber nicht.«

Ich saß eine Zeitlang stillschweigend da und versuchte mich von meiner Verblüffung zu erholen. Der Gedanke drängte sich mir auf, meine Ohren müßten mich wohl getäuscht haben, oder Bartleby habe vielleicht den Sinn meiner Worte völlig mißverstanden. Ich wiederholte mein Ersuchen, so klar und deutlich ich konnte, aber eben so klar und deutlich erhielt ich die vorige Antwort: »Ich möchte lieber nicht.«

»Lieber nicht!« wiederholte ich, sprang voller Erregung auf und durchmaß den Raum mit einem Satz. »Was soll das heißen? Sind Sie übergeschnappt? Ich wünsche, daß Sie mir dieses Blatt durchsehen helfen – hier ...!« – und damit streckte ich es ihm hin.

»Ich möchte lieber nicht«, sagte er.

Ich schaute ihn durchdringend an. Sein Gesicht war hager in seiner Gesamtheit; sein graues Auge von trüber Ruhe. Nicht die geringste Spur von Erregung schien ihn zu durchbeben. Wäre nur die mindeste Unsicherheit, Empörung, Ungeduld oder Unverschämtheit an ihm wahrzunehmen gewesen, mit anderen Worten: hätte er nur irgendwie menschlich im normalen Sinn auf mich gewirkt, so hätte ich ihn zweifellos mit allem Nachdruck aus dem Hause gewiesen. Wie die Dinge aber lagen, hätte ich genau so gut meine gipserne Cicerobüste aus dem Hause weisen können. Ich schaute ihm noch eine Zeitlang zu, wie er seine Schreiberei fortsetzte, und ließ mich dann wieder an meinem Pult nieder. Das ist ja seltsam, dachte ich. Was tat man da am besten? Aber die Geschäfte drängten, und so entschied ich mich, die Sache einstweilen auf sich beruhen zu lassen und später bei günstigerer Zeit zu regeln. Ich rief Beißzange von nebenan zu mir und hatte das Papier rasch durchkorrigiert.

Einige Tage darauf beendete Bartleby die Abschrift von vier umfangreichen Schriftstücken, der vierfachen Abschrift einer von mir beim Obersten Kanzleigericht eingeholten Zeugenaussage. Wieder wurde eine genaue Durchsicht notwendig, und da es sich um einen wichtigen Rechtsstreit handelte, war besondere Sorgfalt geboten. Im gegebenen Augenblick rief ich Puter, Beißzange und Pfeffernuß aus dem Nebenzimmer zu mir, in der Absicht, meinen vier Angestellten die vier Kopien in die Hand zu geben und selbst die Urschrift vorzulesen. Die drei hatten sich bereits in einer Reihe niedergelassen jeder sein Schriftstück in der Hand, und nun rief ich auch noch Bartleby herbei, damit er sich der interessanten Gruppe beigeselle.

»Bartleby! Rasch – ich warte!«

Ich hörte das leise Scharren der Stuhlbeine auf dem mit keinem Teppich belegten Fußboden, und gleich darauf erschien er am Eingang zu seiner Einsiedelei.

»Was ist gefällig?« sagte er sanft.

»Die Abschriften, die Abschriften«, sagte ich hastig. »Wir wollen kollationieren. Hier –« und ich hielt ihm die vierte Abschrift hin.

»Ich möchte lieber nicht«, sagte er und verschwand still hinter seinem Wandschirm.

Einige Augenblicke war ich zur Salzsäule verwandelt und stand sprachlos zuhäupten meiner sitzenden Angestelltenkolonne. Dann faßte ich mich, trat auf den Wandschirm zu und erkundigte mich nach den Gründen eines so ungewöhnlichen Verhaltens.

»Warum weigern Sie sich?«

»Ich möchte lieber nicht.«

Bei jedem anderen wäre ich nun sofort in schreckliche Wut geraten, hätte auf jedes weitere Wort verzichtet und ihn mit Schimpf und Schande des Hauses verwiesen. Bartleby aber hatte etwas an sich, was mich nicht allein seltsam entwaffnete, sondern auch, aufs wunderlichste, rührte und aus dem Konzept brachte. Ich begann ihm ins Gewissen zu reden.

»Es handelt sich um Ihre eigenen Abschriften, die wir kollationieren wollen. Ihnen selber wird damit Arbeit gespart, denn eine Durchsicht genügt dann für alle vier Exemplare. So will's der Brauch; jeder Abschreiber ist verpflichtet, daß er beim Kollationieren seiner Abschriften hilft. Ist es nicht so? Wollen Sie nicht sprechen? Antworten Sie!«

»Ich möchte lieber nicht«, erwiderte er in flötensanftem Ton. Ich hatte den Eindruck, daß er während meiner an ihn gerichteten Worte jede meiner Behauptungen sorgfältig bei sich erwog, daß er den Inhalt meiner Worte durchaus begriff und ihre zwingende Logik nicht anzufechten vermochte, daß ihn aber irgend eine vordringliche Überlegung dazu veranlaßte, dennoch die bewußte Antwort zu geben.

»So gedenken Sie also meinem Ersuchen nicht zu entsprechen – einem Ersuchen, das sich auf Brauch und gesunden Menschenverstand stützt?«

Er gab mir kurz zu verstehen, daß ich ihn in diesem Punkt richtig verstanden hätte. Ja: sein Entschluß sei unumstößlich.

Es kommt nicht selten vor, daß ein Mensch, den man auf noch nie dagewesene und kraß der Vernunft widersprechende Weise vor den Kopf gestoßen hat, in seinem selbstverständlichsten Glauben irre wird. In ihm erwacht sozusagen die unbestimmte Vermutung, daß vielleicht, so seltsam es auch sei, Recht und Vernunft auf der anderen Seite sein könnten. Sind irgendwelche unparteiischen Personen zugegen, so wird sich der solcherart Irregewordene an sie wenden, um bei ihnen für seinen wankenden Gemütsfrieden eine Stütze zu finden.

»Puter«, sagte ich, »was halten Sie davon? Bin ich nicht im Recht?«

»Mit schuldiger Ehrerbietung, Sir«, sagte Puter in seinem geschmeidigsten Ton, »ich glaube wohl.«

»Beißzange«, sagte ich, »was meinen Sie?«

»Ich? Hinausschmeißen würde ich ihn!«

(Der mit Aufmerksamkeit folgende Leser wird sich an dieser Stelle darüber klar sein, daß die Szene am Vormittag spielt, weswegen Puters Antwort in höflichen, ruhigen Ausdrücken gehalten, Beißzanges Erwiderung dagegen übellaunig gefaßt ist. Oder, um es mit einem schon früher gebrauchten Bilde zu sagen: Beißzanges schlechte Laune hatte Dienst, Puters Übellaune hatte dienstfrei.)

»Pfeffernuß«, sagte ich, denn ich wollte auch die geringste Stimme zu meinen Gunsten aufbieten, »was sagst du dazu?«

»Ich sage, Sir, der hat 'n Vogel!« erwiderte Pfeffernuß grinsend.

»Sie hören, was die Leute sagen«, sagte ich, an den Wandschirm gewandt. »Nun kommen Sie heraus und tun Sie Ihre Pflicht!«

Mir ward keine Antwort zuteil. Ich überlegte einen Augenblick, in heilloser Verwirrung. Wieder waren es die Geschäfte, die mich drängten, und ich beschloß abermals, die Entscheidung der Frage bis auf spätere ruhige Zeit zu verschieben. Mit einiger Mühe bewerkstelligten wir es, die Schriftstücke ohne Bartleby zu kollationieren, wenn auch Puter alle paar Seiten seine Meinung bescheidentlich dahin vernehmen ließ, daß dies Verfahren ganz und gar ungewöhnlich sei, indes Beißzange mit der Nervosität des Magenkranken seinen Stuhl hin und her rückte und zwischen zusammengebissenen Zähnen ab und zu ein Knirschen und Zischen der Verwünschung hervorstieß auf den hartgesottenen Esel hinter dem Wandschirm. Was ihn (Beißzange) angehe, so sei dies das erste und letzte Mal, daß er unbezahlt die Arbeit für einen anderen verrichte.

Bartleby saß derweilen in seiner Klause, auf nichts bedacht als auf seinen eigenen Schreiberkram.

Einige Tage vergingen; Bartleby saß wieder über einer langwierigen Arbeit. Das seltsame Verhalten, das er jüngst an den Tag gelegt, ließ mich mit Genauigkeit auf ihn achten. Ich beobachtete, daß er nie zum Essen ging, genau gesagt, daß er überhaupt nie das Haus verließ. Außerhalb meines Büros war er mir, soviel ich mich erinnerte, noch nie begegnet. Als ewiger Wachtposten hauste er in seinem Winkel. Doch stellte ich fest, daß um elf Uhr vormittags Pfeffernuß auf die Öffnung in Bartlebys spanischer Wand zutrat, als würde er von einer, von meinem Platz aus unsichtbaren Handbewegung stillschweigend dorthin befohlen. Er verließ sodann die Kanzlei, mit einigem Kleingeld klimpernd, und erschien wieder mit einer Handvoll Pfeffernüsse, die er in der Klause ablieferte, nicht ohne zwei Stück als Lohn für seine Mühe zu empfangen. Er lebt also von Pfeffernüssen, dachte ich. Mittagbrot, oder was man so nennt, ißt er nicht. Er muß demnach Vegetarier sein – aber nein: er ißt ja auch keine Vegetabilien, er ißt lediglich Pfeffernüsse. Mein Geist erging sich in allerlei müßigen Betrachtungen darüber, welche Wirkung es wohl auf die menschliche Konstitution ausüben müsse, wenn jemand ausschließlich von Pfeffernüssen lebte. Pfeffernüsse heißen deshalb so, weil sie als charakteristischen Bestandteil und als entscheidende Geschmackszutat Pfeffer enthalten. Und was war Pfeffer? Etwas Hitziges, Gewürziges. War Bartleby hitzig und gewürzig? Durchaus nicht. Pfeffer tat demnach auf Bartleby keine Wirkung. Wahrscheinlich war es ihm lieber so.

Nichts kann einen ernsthaften Menschen so aufbringen wie passiver Widerstand. Ist der, dem auf solche Weise begegnet wird, von einigermaßen humaner Gemütsart und der Widerstandleistende seinerseits harmlos in seiner Passivität, dann wird der Fall eintreten, daß jener, bei einigermaßen guter Stimmung, Mitleid walten läßt und mit Hilfe seiner Einfühlungsgabe auszudeuten versucht, was ihm verständlich unerklärlich bleibt. Dergestalt beurteilte auch ich, von Ausnahmefällen abgesehen, meinen Bartleby und seine Eigenarten. Der arme Kerl!, dachte ich; er meint es nicht böse; offensichtlich hat er keine Unverschämtheit im Sinn; sein Aussehen schon bietet die Gewähr dafür, daß keine Absicht hinter seinen Verschrobenheiten steckt. Er ist mir nützlich. Ich komme mit ihm zurecht. Wenn ich ihn an die Luft setze, gerät er womöglich an einen weniger nachsichtigen Brotgeber und dann wird er grob angepackt und verhungert vielleicht zuguterletzt ganz elendiglich. So ist es. Für mich bietet sich hier eine wohlfeile Gelegenheit, mich so zu benehmen, daß ich mit mir selbst zufrieden sein kann. Wenn ich mich des Bartleby annehme, wenn ich ihn in seiner kuriosen Dickköpfigkeit gewähren lasse, so kostet mich das wenig oder nichts, und ich lege mir damit seelisch eine Art Kapital an, das mir dereinst vielleicht einen süßen Gewissenstrost bedeutet. Freilich erlitt diese Einstellung Bartleby gegenüber mitunter auch eine Unterbrechung. Bartlebys Passivität ging mir manchmal auf die Nerven. Es trieb mich rätselhaft, ihn auf einer neuen Widersetzlichkeit zu ertappen – einen Zornesfunken aus ihm hervorzulocken, an dem ich mich selber entzünden könnte. Ich hätte genau so gut versuchen können, mit meinen Fingerknöcheln aus einem Stück Windsorseife Feuer zu schlagen. Eines Nachmittags übermannte mich der böse Trieb, und folgende kleine Szene entspann sich: »Bartleby«, sagte ich, »wenn diese Papiere alle abgeschrieben sind, werde ich sie mit Ihnen kollationieren.«

»Ich möchte lieber nicht.«

»Wie denn? Sie werden sich doch nicht auf diese eigensinnige Grille versteifen wollen?«

Keine Antwort.

Ich riß die Flügeltür neben mir auf und wandte mich an Puter und Beißzange mit dem, Ausruf: »Bartleby erklärt schon wieder, daß er seine Papiere nicht kollationieren will. Was halten Sie davon, Puter?«

Es war Nachmittag, nicht zu vergessen. Puter saß glühend da wie ein Teekocher; seine Glatze dampfte, seine Hände tasteten fahrig zwischen seinen beklecksten Papieren.

»Was ich davon halte?« brüllte er; »ich halte das davon, daß ich demnächst mal zu ihm hintergehe hinter seine spanische Wand und ihm eine runterhaue.«

Mit diesen Worten sprang er auf und warf die Arme in eine Ringkämpferpositur. Er wollte alsbald losrennen und sein Versprechen erfüllen, aber ich hielt ihn zurück, weil ich mir mit Schrecken überlegte, welche Folgen es haben könnte, wenn ich Puters nachmittägliche Kampfeslust unvorsichtig wachriefe.

»Setzen Sie sich hin, Puter«, sagte ich, »und hören Sie, was Beißzange zu sagen hat. Was meinen Sie, Beißzange? Hätte ich nicht das Recht, Bartleby fristlos zu entlassen?«

»Verzeihung, das haben Sie zu entscheiden, Sir. Meiner Meinung nach ist sein Verhalten durchaus ungewöhnlich und, Puter und mir gegenüber, unbillig. Vielleicht handelt es sich aber nur um eine vorübergehende Laune von ihm.«

»So, so?« rief ich, »Sie haben Ihre Ansichten ja erstaunlich geändert. Sie sprechen auf einmal sehr nachsichtig von ihm.«

»Das Bier!« schrie Puter dazwischen, »die ganze Nachsicht kommt nur vom Bier! Beißzange und ich haben heute zusammen gegessen. Schauen Sie nur, wie nachsichtig ich bin, Sir! Soll ich hinein und ihm eine langen?«

»Sie sprechen von Bartleby? Nein, Puter, heute nicht«, erwiderte ich. »Nehmen Sie bitte die Fäuste herunter.«

Ich schloß die Tür und trat abermals auf Bartleby zu. Mehr noch als zuvor verspürte ich die Lust, es aufs Ganze ankommen zu lassen. Widerspruch zu erleben wäre mir hochwillkommen gewesen. Ich entsann mich, daß Bartleby nie die Kanzlei verließ. »Bartleby«, sagte ich, »Pfeffernuß ist ausgegangen; gehen Sie doch eben mal rüber aufs Postamt, bitte«, – es war nur drei Minuten entfernt – »und sehen Sie nach, ob etwas für mich da ist.«

»Ich möchte lieber nicht.«

»Sie wollen nicht?«

»Ich möchte nicht.«

Ich taumelte zu meinem Pult und versank in tiefes Nachdenken. Die zwanghafte Lust von vorhin kehrte wieder. Gab es noch etwas, worin ich mir von diesem armseligen Hungerleider, meinem bezahlten Angestellten, eine schmähliche Abfuhr holen konnte? Fand sich nicht noch ein Auftrag, ein durchaus vernünftiger und billiger Auftrag, den auszuführen er sich, bestimmt weigern würde?

»Bartleby!«

Keine Antwort!

Lauter: »Bartleby!«

Keine Antwort!

Mit Stentorstimme: »Bartleby!«

Wie der leibhaftige Geist, nach den Gesetzen magischer Beschwörung erst der dritten Aufforderung erbötig, erschien er im Eingang seiner Klause.

»Gehen Sie hinüber und sagen Sie Beißzange, er soll kommen.«

»Ich möchte nicht«, sagte er langsam und ehrerbietig und verschwand mit einer Miene der Sanftmut.

»Schön, schön, Bartleby«, sagte ich in einem gesammelten Ton, der, zwischen Strenge und Gelassenheit schwankend, meinen unabänderlichen Entschluß ausdrücken sollte, demnächst mit einem fürchterlichen Strafgericht aufzuwarten. Tatsächlich hatte ich dergleichen halb und halb im Sinn. Doch hielt ich es schließlich, zumal da die Stunde meines Nachtmahls herannahte, für geraten, meinen Hut aufzusetzen und für den heutigen Tag nach Hause zu gehen. Ratlosigkeit und Kümmernis quälten mich sehr.

Soll ich es gestehen? Das Ende des Handels bestand darin, daß als eine stehende Einrichtung meiner Kanzlei ein blasser junger Schreiber namens Bartleby ein Pult daselbst einnahm; daß er für mich kopierte, zum üblichen Satz von vier Gents für die Folioseite zu hundert Wörtern; daß er aber dauernd von der Pflicht entbunden war, seine Abschriften zu kollationieren, welche Pflicht den Herren Puter und Beißzange übertragen blieb, vermutlich in Anerkennung ihres höher entwickelten Scharfsinns. Überdies durfte besagter Bartleby niemals und unter keinen Umständen auch nur zu dem bescheidensten Botengang entsandt werden, und auch wenn er höflichst gebeten wurde, dergleichen auf sich zu nehmen, mußte damit gerechnet werden, daß er »lieber nicht mochte« – mit anderen Worten, daß er sich rundheraus weigerte.

Die Tage gingen dahin, und ich machte mehr und mehr meinen Frieden mit Bartleby. Seine solide Art, die ihn allen Zerstreuungen abgeneigt machte, sein unermüdlicher Fleiß (wenn er nicht gerade einmal, hinter seinem Wandschirm stehend, in eine gewisse Träumerei verfiel), seine Lautlosigkeit, sein unter allen Umständen gleichbleibendes Benehmen – all dies machte ihn zu einer wertvollen Erwerbung. Ganz unübertrefflich war dies: er war stets zugegen – morgens der Erste am Platze, tagsüber ständig anwesend, und abends der Letzte. Auf seine Ehrlichkeit verließ ich mich felsenfest. Meine wertvollsten Papiere, fühlte ich, waren in seinen Händen völlig sicher. Natürlich kam es dann und wann vor, daß ich, ob ich wollte oder nicht, in eine plötzliche jähzornige Aufwallung ihmgegenüber geriet. Es war über alle Maßen schwierig, sich beständig die seltsamen Eigenbröteleien, Vorrechte und unerhörten Ausnahmebestimmungen vor Augen zu halten, die für Bartleby die stillschweigenden Voraussetzungen seines weiteren Wirkens in meinem Büro bildeten. Bisweilen forderte ich in der Eile drängender Geschäfte Bartleby, ohne mir Böses dabei zu denken, in einem kurzen, hastigen Ton dazu auf, sagen wir seinen Finger auf eine im Entstehen begriffene Schleife zu legen, wenn ich Papiere mit rotem Faden zu heften gedachte. Wie sich denken läßt, kam hinter der spanischen Wand hervor unweigerlich die übliche Antwort: »Möchte lieber nicht«, und wie konnte da ein menschliches Geschöpf, behaftet mit den Schwächen der Menschennatur, umhin, sich bitter über dergleichen Widersinn, dergleichen Unvernunft zu beklagen? Immerhin trug jede neue Zurechtweisung, die ich mir auf solche Art zuzog, weiter dazu bei, daß sich die Wahrscheinlichkeit fernerer Unachtsamkeit meinerseits verminderte.

  • Text-Herkunft: Gemeinfrei
  • Text-ID 4480
  • Hinzugefügt am 24. Feb 2014 - 14:31 Uhr

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jahr, sorte, mensch, seele, büro

Einsteller: sophie-clark

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1 Kommentar

  1. sophie-clark

    Im nächsten Teil:Vier Schlüssel

    17. Sep 2016 - 11:22 Uhr

 

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