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Sammlung: Hans Christian Andersen

Vaenö und Glaenö

1805-1875, Hans Christian Andersen

An Seelands Küste, gegenüber von Holsteinborg, lagen einmal zwei waldbewachsene Inseln, Vaenö und Glaenö, auf denen waren Kirchdörfer und Höfe. Sie lagen nahe am Strand, nun ist da nur noch die eine Insel.

Eines Nachts war ein entsetzliches Unwetter. Das Meer stieg, wie es seit Menschengedenken nicht gestiegen war, der Sturm nahm gewaltig zu, es war ein Unwetter wie am jüngsten Tag. es toste, als ob die Erde auseinanderbreche, die Kirchenglocken kamen in Schwung und läuteten ohne Menschenhand.

In dieser Nacht verschwand Vaenö in der Tiefe des Meeres. Es war, als ob es diese Insel niemals gegeben hätte. Aber später, in mancher Sommernacht bei stiller, klarer Ebbe, wenn der Fischer draußen war, mit einem Licht vorne am Schiff, sah er mit scharfem Blick tief unter sich Vaenö liegen mit seinem weißen Kirchturm und der hohen Kirchenmauer. "Vaenö wartet auf Glaenö", sagte die Sage. Er sah die Insel, er hörte die Kirchenglocken unten läuten, aber darin irrte er doch, es waren gewiss Töne von den vielen wilden Schwänen, die hier oft lagen. Die glucksten und riefen, als hörte man aus weiter Ferne Glockenklang.

Es gab eine Zeit, wo sich noch viele alte Leute auf Glaenö an jene Sturmnacht erinnerten und das sie als Kinder in der Ebbe zwischen den beiden Inseln gefahren waren, wie man heutzutage von Seelands Ufer nicht weit von Holsteinborg hinüber nach Glaenö fährt, das Wasser reicht nur bis zur Mitte der Räder. "Vaenö wartet auf Glaenö", wurde gesagt und es wurde Sage und Gewissheit.

Mancher kleine Junge und manches kleine Mädchen lagen in stürmischen Nächten wach und dachten: "Heute Nacht kommt die Stunde, da Vaenö Glaenö holt." In Angst beteten sie ihr Vaterunser, schliefen dann ein, träumten süß und am nächsten Morgen war Glaenö noch da mit seinen Wäldern und Kornfelder, seinen freundlichen Bauernhäusern und Hopfengärten. Der Vogel sang, der Damhirsch sprang. Der Maulwurf roch kein Meerwasser, solange er wühlen konnte.

Und waren Glaenös Tage gezählt. Wir können nicht sagen, wie viele es sind, aber eines schönen Morgens war die Insel verschwunden.

Du warst vielleicht noch gestern drunten am Ufer, sahst die wilden Schwäne auf dem Wasser liegen zwischen Seeland und Glaenö, sahst ein Segelboot mit gespannten Segeln am Walddickicht vorbeigleiten. Du selber fuhrst durch den niedrigen Wasserstand, es gab keinen anderen Fahrweg. Die Pferde stampften ins Wasser, es spritzte um die Wagenräder.

Du bist von dort weggereist, vielleicht nur ein kleines Stück, in die weite Welt hinausgereist und kommst nach einigen Jahren wieder zurück. Du siehst dann den grünen Wald umschlossen von einer großen grünen Wiesenstrecke, wo das Heu vor hübschen Bauernhäusern duftet. Wo bist du? Holsteinborg prangt ja noch hier mit seinen vergoldeten Turmspitzen, aber nicht dicht am Fjord, es liegt tiefer im Land. Du gehst durch den Wald, übers Feld, hinab zum Strand. Wo ist Glaenö? Du siehst keine Waldinsel vor dir, du siehst das offene Meer. Hat Vaenö Glaenö geholt, auf das es so lange wartete? Wann war die Sturmnacht, in der es geschah, in der die Erde zitterte, so dass das alte Holsteinborg viele tausend Schritte hinein ins Land versetzt wurde? Das war keine Sturmnacht, das war am hellen Sonntag. Die Menschenklugheit legte einen Damm vor das Meer, die Menschenklugheit blies das Binnenwasser fort, band Glaenö an das feste Land. Der Fjord ist Wiese geworden mit üppigem Gras, Glaenö ist an Seeland festgewachsen. Der alte Hof liegt, wo er immer lag. Es war nicht Vaenö, das Glaenö holte, es war Seeland, das mit langen Deicharmen zugriff und mit dem Atem der Pumpen blies und die Zauberworte sprach, das Vermählungswort und Seeland erhielt viele Morgen Land als Brautgabe. Das ist Wahrheit, das ist wirklich, du kannst es sehen, statt es zu hören, die Insel Glaenö ist verschwunden. 

 

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  • Text-Herkunft: Gemeinfrei
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  • Hinzugefügt am 15. Feb 2014 - 15:07 Uhr

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Vaenö-und-Glaeno, Hans-Christian-Andersen, Erzählung, Strand, Unwetter

Einsteller: sophie-clark

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