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Sammlung: Gedicht S

Sie sind wieder da!

1893, Rudolf Lavant

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Nun weht es schneidend scharf und kühl

Durch Nebelbrau’n herab vom Norden;
Am Strand das modische Gewühl
Ist dünner jeden Tag geworden;

5
Im Dünensand hat ausflanirt

Der Schwarm der großkarrirten Narren,
Und in den Schuppen einquartirt
Man stillvergnügt die Badekarren.

Nun wird an hohlem Zeitvertreib

10
Man in der Großstadt wieder naschen –

Man hat sich eben nur den Leib,
Man hat die Seele nicht gewaschen.
Man wollte ja an Sund und Haff
Nicht mit dem Ew’gen sich vermählen,

15
Die Nerven nur, die müd’ und schlaff,

Zu kräftigem Genießen stählen.

Sie haben an des Meeres Strand
Sich nicht gebeugt vor Urgewalten,
Sie haben sich mit eitlem Tand,

20
Wie an der Spree, hübsch unterhalten;

Dem ganzen schwatzenden Gemisch
Von Haken- und Germanennasen –
Hat ihm ein Seewind herb und frisch
Der Seele trüben Dunst zerblasen?

 Hat sie der Salzfluth Athemzug

Erfüllt mit männlichen Gedanken,
Hat er ersetzt durch kühnen Flug
Die Niedrigkeit, an der sie kranken?
Hat er, wie Hauch der neuen Zeit,

30
Erneuert sie im tiefsten Leben,

Der Seele Kampfesfreudigkeit,
Dem Rückgrat wieder Halt gegeben?

Und hat, wenn hoch und höher stieg
Die Fluth mit hohlem, dumpfem Brausen,

35
Des finstern Elementes Sieg

Geweckt ein ahnungsvolles Grausen?
Und mahnte doch es an den Feind,
Den halb erst aufgestandnen Riesen,
Hieß es frivol nicht: „Never mind!

40
Nach uns die Sintfluth! Wir genießen!“


Was haben sie am Meer gedacht,
Am fluth- und schaumgenetzten Mole?
Wie man sein Bett sich weicher macht
Durch Zölle und durch Monopole,

45
Wie man das Wahlrecht langsam kürzt,

Bis es zuletzt im Herrn entschlafen,
Wie man die Strafgesetze würzt
Durch „zeitgemäße“ Paragraphen!

Was haben sie am Meer geträumt

50
Im Morgenlicht, in Abendhelle,

Wenn ihre Sohle leicht beschäumt
Die am Gestad’ gebrochne Welle?

 Wie man es aus den Fugen bringt,

Des Volkes Recht, mit goldnen Hebeln,

55
Wie es am sichersten gelingt,

Die Presse elegant zu knebeln!

Wie man zurückerobern kann
Die Freiheit, die man selbst verscherzte –
Wo war der wunderliche Mann,

60
Der schrullenhafte, doch beherzte,

Der, wenn der Möve Schrei geklagt,
Die Sonne sank in goldnen Gluthen,
Sich ernst und sinnend das gefragt
Und sich gelobt, für sie zu bluten?

65
Die Freiheit höhnt jetzt jeder Zwerg,

Und untreu wird ihr selbst der Barde;
Der Gentleman von Heidelberg
Und Windthorst’s rüst’ge schwarze Garde,
Wie mancher Standpunkt sie auch trennt,

70
Höchst einig sind sie über diesen –

Die Freiheit, die kein Obdach kennt,
Sieht zu den Zöllnern sich verwiesen.

So war es einst, so ist es jetzt –
Sie findet Liebe und Erbarmen,

75
Sie findet Schirm, verfehmt, gehetzt,

Nur bei den Zöllnern und den Armen.
Mit ihnen aber – glaubt es nur –
Wird sie die Frühlings-Birkhahnbalzen
Und selbst die Herbstes-Seebadkur

80
Euch ungemüthlich einst – versalzen!


  • Text-Herkunft: Gemeinfrei
  • Text-ID 5838
  • Hinzugefügt am 02. Jul 2014 - 14:13 Uhr

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Verwandte Suchbegriffe

norden, schwarm, großstadt, strand, gedanken

Einsteller: sophie-clark

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2 Kommentare

  1. sophie-clark

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    15. Dez 2015 - 16:52 Uhr

  2. sophie-clark

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