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Sammlung: Büchner, Woyzeck

Woyzeck (3)

1836-1837, Georg Büchner

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Gemeinfreier Text - Persönlich redigiert!Verglichen mit:
Büchners Werke in einem Band
Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1974

 

STRASSE

Hauptmann. Doktor. Hauptmann keucht die Straße herunter, hält an; keucht, sieht sich um

HAUPTMANN: Herr Doktor, rennen Sie nicht so! Rudern Sie mit Ihrem Stock nicht so in der Luftl Sie hetzen sich ja hinter dem Tod drein. Ein guter Mensch, der sein gutes Gewissen hat, geht nicht so schnell. Ein guter Mensch — er erwischt den Doktor am Rock: Herr Doktor, erlauben Sie, daß ich ein Menschenleben rette!

DOKTOR: Pressiert, Herr Hauptmann, pressiert!

HAUPTMANN: Herr Doktor, ich bin so schwermütig, ich habe so was Schwärmerisches; ich muß immer weinen, wenn ich meinen Rock an der Wand hängen sehe —.

DOKTOR: Hm! Aufgedunsen, fett, dicker Hals: apoplektische Konstitution. Ja, Herr Hauptmann, Sie können eine Apoplexia cerebri kriegen; Sie können sie aber vielleicht auch nur auf der einen Seite bekommen und dann auf der einen gelähmt sein, oder aber Sie können im besten Fall geistig gelähmt werden und nur fortvegetieren: das sind so ohngefähr Ihre Aussichten auf die nächsten vier Wochen! übrigens kann ich Sie versichern, daß Sie einen von den interessanten Fällen abgeben, und wenn Gott will, daß Ihre Zunge zum Teil gelähmt wird, so machen wir die unsterblichsten Experimente.

HAUPTMANN: Herr Doktor, erschrecken Sie mich nicht! Es sind schon Leute am Schreck gestorben, am bloßen hellen Schreck. — Ich sehe schon die Leute mit den Zitronen in den Händen; aber sie werden sagen, er war ein guter Mensch, ein guter Mensch — Teufel Sargnagel!

DOKTOR hält ihm den Hut hin: Was ist das, Herr Hauptmann? — Das ist Hohlkopf, geehrtester Herr Exerzierzagel!

HAUPTMANN macht eine Falte: Was ist das, Herr Doktor? — Das ist Einfalt, bester Herr Sargnagel! Hähähä! Aber nichts für ungut! Ich bin ein guter Mensch, aber ich kann auch, wenn ich will, Herr Doktor, hähähä, wenn ich will ...
Woyzeck kommt und will vorbeieilen. He, Woyzeck, was hetzt Er sich so an uns vorbei. Bleib Er doch, Woyzeck! Er läuft ja wie ein offnes Rasiermesser durch die Welt, man schneidt sich an Ihm; Er läuft, als hätt Er ein Regiment Kastrierte zu rasieren und würde gehenkt über dem längsten Haar noch vorm Verschwinden. Aber, über die langen Bärte — was wollt ich doch sagen? Woyzeck: die langen Bärte ...

DOKTOR: Ein langer Bart unter dem Kinn, schon Plinius spricht davon, man müßt es den Soldaten abgewöhnen ...

HAUPTMANN fährt fort: Ha! über die langen Bärte! Wie is, Woyzeck, hat Er noch nicht ein Haar aus einem Bart in seiner Schüssel gefunden? He, Er versteht mich doch? Ein Haar von einem Menschen, vom Bart eines Sapeurs, eines Unteroffiziers, eines — eines Tambourrnajors? He, Woyzeck? Aber Er hat eine brave Frau. Geht Ihm nicht wie andern.

WOYZECK: Jawohl! Was wollen Sie sagen, Herr Hauptmann?

HAUPTMANN: Was der Kerl ein Gesicht macht! ... Vielleicht nun auch nicht in der Suppe, aber wenn Er sich eilt und um die Eck' geht, so kann er vielleicht noch auf ein Paar Lippen eins finden. Ein Paar Lippen, Woyzeck — ich habe auch das Lieben gefühlt, Woyzeck. Kerl, Er ist ja kreideweiß!

WOYZECK: Herr Hauptmann, ich bin ein armer Teufel — und hab sonst nichts auf der Welt. Herr Hauptmann, wenn Sie Spaß machen —

HAUPTMANN: Spaß, ich? Daß dich Spaß, Kerl!

DOKTOR: Den Puls, Woyzeck, den Puls! — Klein, hart, hüpfend, unregelmäßig.

WOYZECK: Herr Hauptmann, die Erd' is höllenheiß — mir eiskalt, eiskalt — Die Hölle is kalt, wollen wir wetten. — — Unmöglich! Mensch! Mensch! unmöglich!

HAUPTMANN: Kerl, will Er — will Er ein paar Kugeln vor den Kopf haben? Er ersticht mich mit seinen Augen, und ich mein es gut mit Ihm, weil Er ein guter Mensch ist, Woyzeck, ein guter Mensch.

DOKTOR: Gesichtsmuskeln starr, gespannt, zuweilen hüpfend. Haltung aufgeregt, gespannt.

WOYZECK: Ich geh. Es is viel möglich. Der Mensch! Es is viel möglich. — Wir haben schön Wetter, Herr Hauptmann. Sehn Sie, so ein schöner, fester, grauer Himmel; man könnte Lust bekommen, ein' Kloben hineinzuschlagen und sich daran zu hängen, nur wegen des Gedankenstrichels zwischen Ja und wieder Ja — und Nein. Herr Hauptmann, Ja und Nein? Ist das Nein am Ja oder das Ja am Nein schuld? Ich will drüber nachdenken. Geht mit breiten Schritten ab, erst langsam, dann immer schneller.

DOKTOR schießt ihm nach: Phänomen! Woyzeck, Zulage!
HAUPTMANN: Mir wird ganz schwindlig vor den Menschen. Wie schnell! Der lange Schlingel greift aus, als läuft der Schatten von einem Spinnbein, und der Kurze, das zuckelt. Der Lange ist der Blitz und der Kleine der Donner. Haha ... Grotesk! grotesk!

MARIENS KAMMER

Marie. Woyzeck

WOYZECK sieht sie starr an und schüttelt den Kopf: Hm! Ich seh nichts, ich seh nichts. Oh, man müßt's sehen, man müßt's greifen könne mit Fäusten!

MARIE verschüchtert: Was hast du, Franz? — Du bist hirnwütig, Franz.

WOYZECK: Eine Sünde, so dick und so breit — es stinkt, daß man die Engelchen zum Himmel hinausräuchern könnt! Du hast ein' roten Mund, Marie. Keine Blase drauf? Wie, Marie, du bist schön wie die Sünde — kann die Todsünde so schön sein?

ARIE: Franz, du redst im Fieber!

WOYZECK: Teufel! — Hat er da gestanden? so? so?

MARIE: Dieweil der Tag lang und die Welt alt is, können viel Menschen an einem Platz stehn, einer nach dem andern.

WOYZECK: Ich hab ihn gesehn!

MARIE: Man kann viel sehn, wenn man zwei Auge hat und nicht blind is und die Sonn' scheint.

WOYZECK: Mensch! Geht auf sie los.

MARIE: Rühr mich an, Franz! Ich hätt lieber ein Messer in den Leib als deine Hand auf meiner. Mein Vater hat mich nit anzugreifen gewagt, wie ich zehn Jahr alt war, wenn ich ihn ansah.

WOYZECK: Weib! — Nein, es müßte was an dir sein! Jeder Mensch is ein Abgrund; es schwindelt einem, wenn man hinabsieht. — Es wäre! Sie geht wie die Unschuld. Nun, Unschuld, du hast ein Zeichen an dir. Weiß ich's? weiß ich's? Wer weiß es? Er geht.

___

DIE WACHTSTUBE

Woyzeck. Andres

ANDRES singt: Frau Wirtin hat 'ne brave Magd,
                      Sie sitzt im Garten Tag und Nacht,
                      Sie sitzt in ihrem Garten ...

WOYZECK: Andres!

ANDRES: Nu?

WOYZECK: Schön Wetter.

ANDRES: Sonntagswetter — Musik vor der Stadt. Vorhin sind die Weibsbilder hinaus; die Mensche dampfe, das geht!

WOYZECK unruhig: Tanz, Andres, sie tanze!

ANDRES: Im Rössel und in Sternen.

WOYZECK: Tanz, Tanz!

ANDRES: Meintwege.
          Sie sitzt in ihrem Garten,
          Bis daß das Glöcklein zwölfe schlägt,
          Und paßt auf die Solda—aten.

WOYZECK: Andres, ich hab kei Ruh'.

ANDRES: Narr!

WOYZECK: Ich muß hinaus. Es dreht sich mir vor den Augen. Tanz, Tanz! Wird sie heiße Händ' habe! Verdammt, Andres!

ANDRES: Was willst du?

WOYZECK: Ich muß fort, muß sehen.

ANDRES: Du Unfried! Wegen dem Mensch?

WOYZECK: Ich muß hinaus, 's is so heiß dahie.

WIRTSHAUS

Die Fenster off en, Tanz. Bänke vor dem Haus. Bursche

ERSTER HANDWERKSBURSCH:
          Ich hab ein Hemdlein an, das ist nicht mein;
          Meine Seele stinkt nach Branndewein —

ZWEITER HANDWERKSBURSCH: Bruder, soll ich dir aus Freundschaft ein Loch in die Natur machen? Vorwärts! Ich will ein Loch in die Natur machen! Ich bin auch ein Kerl, du weißt — ich will ihm alle Flöh' am Leib totschlagen.

ERSTER HANDWERKSBURSCH: Meine Seele, meine Seele stinkt nach Branndewein! — Selbst das Geld geht in Verwesung über! Vergißmeinnicht, wie ist diese Welt so schön! Bruder, ich muß ein Regenfaß voll greinen vor Wehmut. Ich wollt, unsre Nasen wären zwei Bouteillen, und wir könnten sie uns einander in den Hals gießen.

ANDRE im Chor: Ein Jäger aus der Pfalz
                      Ritt einst durch einen grünen Wald.
                      Halli, hallo, ha lustig ist die Jägerei
                      Allhier auf grüner Held'.
                      Das Jagen is mei Freud'.

Woyzeck stellt sich ans Fenster. Marie und der Tambourmajor tanzen vorbei, ohne ihn zu bemerken.

WOYZECK: Er! Sie! Teufel!

MARIE im Vorbeitanzen: Immer zu, immer zu —

WOYZECK erstickt: Immer zu — immer zu! Fährt heftig auf und sinkt zurück auf die Bank: Immer zu, immer zu! Schlägt die Hände ineinander: Dreht euch, wälzt euch! Warum bläst Gott nicht die Sonn' aus, daß alles in Unzucht sich übereinander wälzt, Mann und Weib, Mensch und Vieh?! Tut's am hellen Tag, tut's einem auf den Händen wie die Mücken! — Weib! Das Weib is heiß, heiß! —Immer zu, immer zu! Fährt auf: Der Kerl, wie er an ihr herumgreift, an ihrem Leib! Er, er hat sie — wie ich zu Anfang. Er sinkt betäubt zusammen.

ERSTER HANDWERKSBURSCH predigt auf dem Tisch: Jedoch, wenn ein Wandrer, der gelehnt steht an dem Strom der Zeit oder aber sich die göttliche Weisheit beantwortet und sich anredet: Warum ist der Mensch? Warum ist der Mensch? — Aber wahrlich, ich sage euch: Von was hätte der Landmann, der Weißbinder, der Schuster, der Arzt leben sollen, wenn Gott den Menschen nicht geschaffen hätte? Von was hätte der Schneider leben sollen, wenn er dem Menschen nicht die Empfindung der Scham eingepflanzt hätte, von was der Soldat, wenn er ihn nicht mit dem Bedürfnis sich totzuschlagen ausgerüstet hätte? Darum zweifelt nicht — ja, ja, es ist lieblich und fein, aber alles Irdische ist übel, selbst das Geld geht in Verwesung über. Zum Beschluß, meine geliebten Zuhörer, laßt uns noch übers Kreuz pissen, damit ein Jud' stirbt!
Unter allgemeinem Gejohle erwacht Woyzeck und rast davon.  

  • Text-Herkunft: Gemeinfrei
  • Text-ID 443
  • Hinzugefügt am 04. Dez 2011 - 11:18 Uhr

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Verwandte Suchbegriffe

woyzeck, 19., Jahrhundert, deutschland, drama, klassik, vormärz, biedermeier, restauration, fürstenherrschaft,

Einsteller: klassiker

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