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Sammlung: Franz Kafka

Tagebuch Teil 01

1883-1924, Franz Kafka


 

1910

 

Die Zuschauer erstarren, wenn der Zug vorbeifährt.

Das ä, losgelöst vom Satz, flog dahin wie ein Ball auf der Wiese.

Sein Ernst bringt mich um. Den Kopf im Kragen, die Haare um den Schädel geordnet, die Muskeln an den Wangen gespannt ...

Ist der Wald noch immer da? Der Wald war noch da. Kaum aber war mein Blick zehn Schritte weit gegangen, ließ ich ab, wieder eingefangen vom langweiligen Gespräch.

Im dunklen Wald, im aufgeweichten Boden fand ich mich nur durch das Weiß seines Kragens zurecht.

Ich bat im Traum die Tänzerin Eduardowa,sie möchte doch den Csárdás noch einmal tanzen. Sie hatte einen breiten Streifen Schatten mitten im Gesicht. Gerade kam jemand mit den ekelhaften Bewegungen des unbewussten Intriganten, um ihr zu sagen, der Zug fahre gleich. Durch die Art, wie sie die Nachricht anhörte, wurde mir schrecklich klar, dass sie nicht mehr tanzen werde. »Ich bin eine böse, schlechte Frau, nicht wahr?«, sagte sie. »O nein«, sagte ich und wandte mich in eine beliebige Richtung zum Gehen. Vorher fragte ich sie über die vielen Blumen aus, die in ihrem Gürtel steckten. »Die sind von allen Fürsten Europas«, sagte sie. Ich dachte nach, was das für einen Sinn habe, dass diese Blumen, die frisch im Gürtel steckten, der Tänzerin Eduardowa von allen Fürsten Europas geschenkt worden waren.

Die Tänzerin Eduardowa, eine Liebhaberin der Musik, fährt wie überall so auch in der elektrischen Straßenbahn in Begleitung zweier Violinisten, die sie häufig spielen lässt. Denn es besteht kein Verbot, warum in der elektrischen Straßenbahn nicht gespielt werden dürfte, wenn das Spiel gut, den Mitfahrenden angenehm ist und nichts kostet, das heißt, wenn nachher kein Geld eingesammelt wird. Es ist allerdings am Anfang ein wenig überraschend und ein Weilchen findet jeder, es sei unpassend. Aber bei voller Fahrt, starkem Luftzug und stiller Gasse klingt es hübsch.

Die Tänzerin Eduardowa ist im Freien nicht so hübsch wie auf der Bühne. Die bleiche Farbe, diese Wangenknochen, die die Haut so spannen, die breite Gestalt mit hoher Taille in allzu faltigen Röcken...wem kann das gefallen? Sie sieht einer meiner Tanten, einer ältlichen Dame, ähnlich und viele ältere Tanten vieler Leute sehen ähnlich aus.

Meine Ohrmuschel fühlte sich frisch, rauh, kühl an.

Ich schreibe das ganz bestimmt aus Verzweiflung über meinen Körper und über die Zukunft mit diesem Körper.

Wenn sich die Verzweiflung so bestimmt gibt, so an ihren Gegenstand gebunden ist, so zurückgehalten wie von einem Soldaten, der den Rückzug deckt und sich dafür zerreißen lässt, dann ist es nicht die richtige Verzweiflung. Die richtige Verzweiflung hat ihr Ziel gleich und immer überholt.

 

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  • Text-Herkunft: Gemeinfrei
  • Text-ID 5021
  • Hinzugefügt am 11. Apr 2014 - 12:21 Uhr

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Verwandte Suchbegriffe

Tagebuch, Franz-Kafka, Zug, Wald, Tänzerin

Einsteller: sophie-clark

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