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Sammlung: Stendhal

Bekenntnisse eines Ichmenschen Teil 01

1783-1842, Stendhal


 

 

Vorwort

Bruchstücke einer großen Konfession – so kann man mit Recht auch die vorliegenden »Bekenntnisse eines Ichmenschen« nennen. Sie sind fragmentarisch wie Beyle-Stendhals ganzes Leben und Schaffen, nach Stimmung und Gelegenheit begonnen und wieder abgebrochen, aber gerade in diesem zwanglosen Aufnehmen und Fallenlassen, dieser unstilisierten Natürlichkeit liegt eine Gewähr für ihre Ehrlichkeit. Wie zwei große Eckpfeiler stehen am Anfang und am Schluß »Das Leben des Henri Brulard«, die Darstellung seiner Kindheit und Jugend bis zur Ankunft des Intendanturvolontars in Mailand, und die »Bekenntnisse eines Ichmenschen«, die Erinnerungen an seine reife Manneszeit, die sein Bewunderer Paul Bourget »neben Shakespeares Sonette, das »Journal intime« von Benjamin Constant, die Bekenntnisse des Hl. Augustinus und etliche andere erhabene oder sündhafte Meisterwerke von hervorragender Gefühlsverfeinerung« gestellt hat.

Zwischen ihnen, die für eine spätere Veröffentlichung bestimmt waren, liegen die regellosen Massen der Tagebücher Beyles, die er nur für sich geschrieben hat, in denen er seine Erlebnisse à nu aufzeichnete, Kritik an Kunst, Literatur und Philosophie trieb, in denen er andere Menschen und vor allem sich selbst psychologisch zergliederte und nach seiner eigenen, eigenwilligen Wahrheit über Menschen und Dinge strebte. Sie sind noch mehr als seine beiden großen autobiographischen Fragmente unmittelbare Bekenntnisse, und als solche bilden sie den wichtigsten Schlüssel für das Werden seiner komplizierten und so scheu verschlossenen Persönlichkeit. Was er weder Mitlebenden noch seinen Werken anzuvertrauen wagte, sich selbst gegenüber hat er es hier offen und ohne Scham gestanden.

Es gibt Künstler und Schriftsteller, die ganz in ihrem Werke verschwinden, deren Leben uns nur geringen Anteil abnötigt. Es gibt andere, deren Leben, ganz unabhängig von ihren Werken, selbst ein Kunstwerk oder ein spannender Roman ist. Werk und Leben sind zwar auch bei ihnen aufs innigste verknüpft, aber das Eigenste, Eigenartigste dieses Lebens geht doch nur mittelbar in das Werk über und wird von ihm halb verschleiert. So ist uns der Mensch Goethe heute ebenso fesselnd wie seine unsterblichen Werke; so erweckt auch der Mensch Stendhal unsere höchste Anteilnahme, selbst wenn er wenig oder gar nichts für die Öffentlichkeit bestimmt hätte. Deshalb sind seine persönlichen Aufzeichnungen von so hohem Wert für den, Seelenforscher, ganz unabhängig von seinen Werken, so sehr sie auch zu deren Verständnis beitragen. Sie sind der Niederschlag eines Lebensromans von kaleidoskopischer Buntheit, dessen Held Soldat, Handlungslehrling, Kriegskommissar, Auditor im Staatsrat und Hofmann, Europawanderer, Schriftsteller und Diplomat gewesen ist, die Beichte einer nach Paul Bourgets Wort »verstandesscharfen, bis zur Narrheit zärtlichen, bis zur Grausamkeit ironischen, bis zur Tollkühnheit energischen und bis zur naivsten Empfindsamkeit romantischen Seele, der Seele eines Kindes, eines Soldaten und Dichters, eines Weltmannes und Einsamen, eines Freidenkers und Liebenden, kurz, der Seele eines Mannes, der im Alter über vierzig Jahren eine Romanform ohnegleichen erfand«.

 Es hat lange gewährt, bis der Mensch Stendhal hinter seinen Werken hervorgetreten ist, bis man ihn als solchen zu würdigen verstanden hat. Den ersten Versuch dazu machte auf Grund langjährigen persönlichen und brieflichen Verkehrs sein Freund Prosper Mérimée, der Carmendichter, in seinen »Notes et souvenirs«, die die Erstausgabe seines Briefwechsels (1855) einleiten und die im Anhang des vorliegenden Bandes wiedergegeben sind. Einen Schritt weiter tat dann Stendhals großer Schüler Hippolyte Taine, der ihn nicht mehr persönlich gekannt hat, in seiner Stendhalstudie, in der er Stendhal zuerst als Psychologen feierte, der »unter dem Anschein eines Causeurs oder Weltmanns die schwierigsten inneren Mechanismen erklärte, der den Finger auf die großen Triebfedern legte, der die wissenschaftliche Methode, die Kunst des Entzifferns, Zergliederns und Deduzierens, auf die Geschichte des Herzens anwandte«. Aber auch Taines geistvolle Analyse konnte nur ein Versuch sein, solange Stendhals Autobiographien und Tagebücher in seinem handschriftlichen Nachlaß schlummerten. Erst die Veröffentlichungen des nach Stendhals Vaterstadt Grenoble, dann nach Paris verschlagenen Sprachlehrers Casimir Stryienski, eines Polen jüdischer Abkunft, der nach jahrelanger mühevoller Entzifferungsarbeit der Handschriften Stendhals »Journal«, sein Tagebuch von 1801 bis 1814 (1888), die »Vie de Henri Brulard« (1890) und die »Souvenirs d' Egotisme« (1892) herausgab, schufen die Grundlagen einer psychologisch vertieften Stendhalforschung, zu einer Zeit, wo die psychologische Schulung des modernen Denkens weit genug gediehen war, um den geistigen Vorsprung Stendhals vor seinen Zeitgenossen einzuholen.

Seitdem haben sich die Stendhalveröffentlichungen aller Art gehäuft. Unter ihnen nehmen neben seinen nachgelassenen Romanen »Lamiel« (1889) und »Lucian Leuwen« (1894) sowie den von mir entdeckten Novellen vor allem das von Paul Arbelet herausgegebene »Journal d'ltalie« von 1801–1818 (1911) und die ebenfalls von Arbelet besorgte erste vollständige Ausgabe der »Vie de Henri Brulard« (1913), die Stryienski nicht restlos veröffentlicht hatte, die erste Stelle ein, daneben das Braunschweiger Tagebuch (1913) sowie die zahlreichen Briefveröffentlichungen, die uns in Band 8 beschäftigen werden. Und doch sind auch dies alles nur Bruchstücke aus der gewaltigen Hinterlassenschaft Beyles in den Bibliotheken von Grenoble und Paris, von der uns der verstorbene Adolphe Paupe eine summarische Ausstellung gegeben hat und von der ein großer Teil, darunter zahlreiche Tagebücher und autobiographische Aufzeichnungen, noch der Veröffentlichung harrt.

Erst neuerdings hat die französische Stendhalforschung, die so lange ein oft rührendes Dilettantenbemühen oder eine subalterne Verhimmelung war, und die ihre stärksten Anregungen einem Zugewanderten (Stryienski) verdankt, ein ernsthaftes, wissenschaftliches Gepräge angenommen, und sie wird noch Jahrzehnte zu tun haben, um die vorhandenen Schätze zu heben. Dazu kommt, daß diese Last bei dem französischen Nationalcharakter, dem Stendhal, dieser Ausnahmefranzose, manche empfindliche Seitenhiebe versetzt hat, immer nur auf wenigen Schultern opferbereiter Männer ruhen wird, um so mehr als der Weltkrieg auch auf diesem Gebiet zu einer Stagnation des französischen Geisteslebens geführt hat, als wäre Frankreich nicht als Sieger, sondern als geistig und materiell zusammengebrochener Besiegter aus dem Völkerringen hervorgegangen. Man kann also auch heute noch von Stendhal das gleiche sagen, was Jakob Burckhardt von Leonardo da Vinci gesagt hat, daß wir die Umrisse seines Geistes bisher nur ahnen können. Immerhin ist die Fülle des ans Licht Gekommenen gegenwärtig groß genug, um ein Gesamtbild zu gewinnen. Man ist ja bei Stendhals Natur an das Fragmentarische und Problematische so gewöhnt, daß man es auch hier angesichts der Fülle des Fesselnden und Wertvollen, das darin liegt, gern hinnimmt.

 Es konnte nicht der Zweck dieses Bandes sein, Stendhals Autobiographien und Tagebücher mit dem ganzen Gewirr ihrer für den Forscher wertvollen Einzelheiten restlos wiederzugeben, zumal manches aus der damaligen französischen Zeitgeschichte dem heutigen deutschen Leser zu fern liegt und auch nur durch einen umständlichen Apparat von Anmerkungen lebendig zu machen wäre. Eine solche Fülle mosaikartiger Einzelheiten hätte zudem selbst den weitgespannten Rahmen dieses Bandes gesprengt und wäre für viele Leser durch ihre Breite verwirrend und ermüdend geworden. Ich habe mich daher bei dieser Zusammenstellung von ähnlichen Gesichtspunkten leiten lassen, wie bei der gekürzten Herausgabe seiner beiden italienischen Reiseschriften, indem ich veraltete oder fernliegendeEinzelheiten unterdrückt und die großen Züge, die bedeutsamsten Stunden von Stendhals Leben um so stärker herausgearbeitet habe. Insbesondere das »Journal« ist stark gekürzt worden. Die zahlreichen Kritiken damaliger Bühnenwerke und Schauspielerleistungen in seinem Pariser Tagebuch sind für die Geschichte von Stendhals Geistesentwicklung gewiß von Bedeutung, gehen aber über den gesteckten Rahmen weit hinaus, nicht minder die breit ausgemalten täglichen Einzelheiten seiner aufkeimenden Liebe zu Melanie Guilbert oder – in den späteren Partien – seiner flüchtigen Liebeleien mit anderen Frauen, die sich bei dem verstümmelten Zustand ihrer Namen nicht einmal mit Sicherheit feststellen lassen. Somit bildet die vorliegende Ausgabe nur Bruchstücke aus Bruchstücken, allerdings die bedeutsamsten, die bisher veröffentlicht sind. Gut die Hälfte davon erscheint hier zum erstenmal in deutscher Sprache.

Neben dem »Journal« und dem »Journal d'Italie« ist es vor allem das »Braunschweiger Tagebuch«, das deutsche Leser besonders fesseln dürfte, zumal seine erste französische Veröffentlichung (1913) sich lediglich mit der Wiedergabe des Textes begnügt hat, ohne den zahlreichen, darin vorkommenden Gestalten irgendwie nachzuspüren. Durch Heranziehen der gedruckten Überlieferung wie durch Anfragen bei den Nachkommen der genannten Personen ist es mir gelungen, die Umwelt, in die der junge französische Kriegskommissar verschlagen wurde, lebendig zu machen. Einen Vorgänger habe ich hier freilich schon in dem verdienten Stendhalforscher Dr. Arthur Schurig gehabt, der zuerst den Lebensdaten von Stendhals deutschem Freunde Friedrich v. Strombeck, dessen Schwägerin Philippine v. Bülow und Stendhals platonischer deutscher Liebe, Wilhelmine v. Griesheim, nachgegangen ist, auch Briefe Stendhals an Strombeck entdeckt hat. Aufs höchste zu beklagen ist gewiß, daß das erste Braunschweiger Tagebuch, das die Anfänge seiner Liebe zu Wilhelmine enthalten muß, unwiederbringlich verloren ist: es fiel auf dem Rückzug aus Rußland mit Beyles ganzem Gepäck in die Hände der Kosaken.

Strombeck selbst hat in seinen »Darstellungen aus meinem Leben und aus meiner Zeit« ein kurzes Lebensbild Beyles entworfen. »Ich darf sagen«, schreibt er, »daß wir Freundschaft für einander empfanden. Er war ein wissenschaftlich gebildeter junger Mann, bei aller echt französischen Lebhaftigkeit von einer Gutmütigkeit, die nicht übertroffen werden konnte. Fast täglich besuchte er mich, begleitete mich auf meinen Spazierritten, verweilte mit mir bisweilen auf meinem Landgute, und selbst auf meinen Harz- und Brockenfahrten war er mein Gefährte. Für den Nutzen meiner Fürstin wachte er fast mit gleicher Sorgfalt wie ich selbst, und seine Ratschläge fand ich immer ausführbar. Ich habe ihn im Jahr 1811 zu Paris wieder gesehen, nach Napoleons Sturz noch einen Brief von ihm erhalten, nachher aber nichts mehr von diesem treuen Freunde gehört.«

 Die moralische Quintessenz dieses Braunschweiger Tagebuches, die Betrachtungen über die deutsche Liebe und Ehe, sind später – mit veränderten Orts- und Personennamen, um niemand bloßzustellen – in Stendhals psychologisches Werk »Über die Liebe«übergeflossen. Er hat stets eine Art von Bewunderung für die deutsche Liebe und Ehe bewahrt, die freilich den lockeren französischen Sitten seiner Zeit so völlig entgegengesetzt war.

Ebenso bekennt er später, wie bedeutsam dieser dreijährige Aufenthalt in Deutschland und Österreich für seinen musikalischen Geschmack gewesen sei. Er selbst sollte 1814 eine freie Bearbeitung von Carpanis »Haydine« herausgeben, und noch auf seinem Grabsteinentwurf setzt er: »Quest' anima adorava Cimarosa, Mozart e Shakespeare«, d. h. seinen italienischen und deutschen Lieblingskomponisten und neben ihnen den großen Briten, der schon damals zum deutschen Nationaldichter geworden war, während Beyle selbst noch 1823 und 1825 in seinen Pamphleten »Racine und Shakespeare« den Versuch machen mußte, seinen Landsleuten für Shakespeares Größe die Augen zu öffnen. Der im Anhang (Nr. 3) mitgeteilte Brief der Philippine v. Bülow über die deutsche Musik und die (damalige) deutsche Empfindungsart zeigt, wie lebhaft der nach übernationaler Bildung strebende junge Franzose die Eindrücke der deutschen Umwelt in sich aufgenommen hat. Allerdings zeigt sein Braunschweiger Tagebuch auch das uns heute wieder geläufige traurige Bild, daß deutsche Hände es waren, die den Fremden ungünstige Bilder vom deutschen Geistesleben zeichneten. Der ganz im französischen Geschmack Friedrichs des Großen aufgewachsene alte Baron v. Bothmer ließ Beyle gegenüber kein gutes Haar an der deutschen Literatur, die doch damals gerade ihren Zenit erklomm, so daß Beyle von diesem Deutschen nur das Echo des französischen Rokokogeschmacks vernahm, den er selbst innerlich längst überwunden hatte. So glaubte er denn sogar die deutsche Literatur nach dem wenigen, was er aus Übersetzungen davon kannte, gegen Bothmer in Schutz nehmen zu müssen. Tiefer eingedrungen ist er in sie freilich nie, und wenn er gerade damals sich mehr mit dem englischen Schrifttum befaßte und zeitlebens das deutsche geringschätzig behandelt hat, so mögen dazu solche abschätzigen Urteile, wie er sie von Bothmer gehört hat, nicht weniger beigetragen haben als die Schwierigkeit des Erlernens der deutschen Sprache, die er später als »Rabengekrächz« bezeichnet hat.

Vollends auf Kriegsfuß stand er sich zeitlebens mit der deutschen Philosophie, deren schwere Terminologie und metaphysische Spekulation seinem auf Klarheit dringenden und auf Empirie fußenden Geiste zu mystisch und verschwommen erschien. Insbesondere mußte ihn Kant abstoßen, vorausgesetzt, daß er ihn verstanden hat: war dessen kategorischer Imperativ der Pflicht doch das gerade Gegenteil von Beyles »egotistischer« Sittenlehre, dem »Beylismus«, der Pflichten nur gegen sich selbst und gegen Freunde anerkannte.

 Dagegen hat er in späteren Jahren eine große Hochachtung vor der deutschen Wissenschaft zur Schau getragen, obwohl er bei der Seltenheit von Übersetzungen wissenschaftlicher Werke nur wenig davon gelesen haben mag. Vermutlich lobte er sie nur »aufs Wort«, d. h. ihrem Rufe nach, was sonst bei ihm selten der Fall war, aber es mag ihm ein boshaftes Vergnügen bereitet haben, die Gründlichkeit und Gewissenhaftigkeit der deutschen Wissenschaft gegen die Oberflächlichkeit der (damaligen) französischen auszuspielen. So schreibt er in den »Wanderungen in Rom«: »In Wahrheit findet man wahre Wissenschaft nur jenseits des Rheins. In Paris druckt man heute frischweg, was man gestern gelernt hat.« Daß Stendhal damit bedeutenden französischen Gelehrten, wie Cuvier, Ampère, Arago, mit denen er damals persönlich verkehrte, Unrecht tat, bedarf kaum des Hinweises.

Einen wirklich tiefen Eindruck haben ihm nur A. W. Schlegels »Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur« (1805–11) hinterlassen, die er 1813 in französischer Übersetzung kennen lernte. Dies Buch hat ihn im Verein mit der Beeinflussung durch die Mailänder Romantik (in den Jahren 1815–21), die sich gleichfalls an deutschen Quellen inspiriert hatte, zum ersten Theoretiker der nachhinkenden französischen Romantik gemacht, als deren Vorkämpfer er in seinen bereits genannten Pamphleten »Racine und Shakespeare« aufgetreten ist.

Am meisten versündigt hat Stendhal sich durch oberflächliche und schiefe Urteile an Deutschlands größtem Geist, Goethe, obwohl gerade er mit ihm zahlreiche Berührungspunkte hatte: in seinem sinnenfrohen Realismus, seinem Glauben an die Persönlichkeit, seiner Bewunderung Napoleons und Lord Byrons, seiner Kunstbegeisterung und Italienschwärmerei und schließlich auch in seiner Stellung zum »Ewig-Weiblichen«; wie denn auch Goethe Stendhals italienischen Reisebildern (in denen Entlehnungen aus Goethes »Italienischer Reise« vorkommen, die diesem nicht entgingen) und seinem Roman »Rot und Schwarz« aufrichtige Bewunderung gezollt hat.

Schließlich ist hier auch noch darauf hinzuweisen, daß Beyle sich sein bizarres Pseudonym de Stendhal, das zum erstenmal in seiner »Reise in Italien« auftaucht, von dem altmärkischen Städtchen Stendal geholt hat, allerdings nicht aus Begeisterung für den von ihm wenig geschätzten Winckelmann, der, wie er einmal schreibt, »in meinem Lehen geboren ist«, sondern wohl eher aus Laune oder in Erinnerung an irgendein Abenteuer in Stendal während seiner Braunschweiger Zeit. In seiner »Reise in Italien«, wo er sich als »Kavallerieoffizier« einführt, der »seit 1814 aufgehört hat, Franzose zu sein«, wollte er mit diesem deutschen Decknamen wohl den Eindruck erwecken, als sei er Angehöriger eines der früheren Rheinbundstaaten gewesen, wie denn jene Reise ja auch in Berlin beginnt und in Frankfurt a. M. endet. Auf seinem Grabstein hat er sich dann später, wie wir sehen werden, als Italiener (Milanse) bezeichnet.

 Alles in allem ist Stendhal, wenn man von seiner ehrlichen Liebe zur deutschen Musik, insbesondere zu Mozart, und seiner halb widerwilligen Bewunderung der deutschen Liebe und Ehe absieht, in deutsche Art und Verhältnisse bei weitem nicht so tief und mit so eifrigem Streben eingedrungen wie in die italienische und selbst die englische Wesensart. Aber er ist auch trotz seines traurigen Amtes, das Braunschweiger Land durch Kriegskontributionen auszupressen, nicht als überheblicher oder gleichgültiger Eroberer aufgetreten. Er ist vielmehr stets bestrebt, Augen und Ohren aufzutun und sich einunvoreingenommenes Urteil zu bilden, freilich noch nicht mit dem psychologischen Scharfblick seiner reifen Mannesjahre, sondern häufig mit der für seine Jugend kennzeichnenden launischen Empfindlichkeit, mehr mit den Nerven als mit dem Verstande, wie er selber sagt.

Eigenartig ist es, daß sein deutscher Freund Strombeck wohl als einziger an dem jungen Beyle eine Gutmütigkeit entdeckt, »die nicht übertroffen werden konnte«. Beyle hat es in seinen späteren Denkwürdigkeiten oft bitter beklagt, daß keiner seiner französischen oder italienischen Freunde seine »tiefe Seelengüte« erkannt habe, die er allerdings später unter der Maske geistreicher Spötterei zu verbergen suchte. Der gutherzige Deutsche hat sie aus verwandter Gemütsanlage heraus erkannt, und selbst von dem alternden, kaltspöttischen Stendhal sagt Ludwig Spacke, ebenfalls ein Deutscher, Beyle gehöre »zu den sonderbar angelegten Naturen, die sich jeder idealistischen Regung schämen und hinter diabolischem Spott oft nur ein tiefverwundetes, für innige Liebe angelegtes Herz bergen«. Bei französischen Zeitgenossen wird man diese Einsicht in eine Wesensseite Stendhals vergeblich suchen; sie wußten an ihm nur die Maske des Geistes zu schätzen, die er seinem Herzen vorhielt, bestenfalls seine Rechtschaffenheit und Offenheit gegen Freunde.

Zum Abschluß dieses Bildes »Stendhal in Deutschland« seien noch ein paar Worte Strombecks über das Braunschweiger Leben in der Franzosenzeit zitiert. »Im herzoglichen Schlosse«, schreibt er, »hauste der Gouverneur, General Rivaud, im Bevernschen Palais der Intendant Martial Daru. An beiden Orten drängten sich Bälle und Gastmähler. Die jungen Damen prangten in ihrem schönsten Glanze und schienen zum größten Teil in den Franzosen keine Feinde zu erkennen. Es schien nicht anders, als wären unsere ungebetenen Gäste unsere Gastgeber. Jedoch muß man zu ihrer Ehre sagen, daß sie ihr böses Amt unter den humansten Formen verwalteten. Vorzüglich zeichnete sich in dieser Hinsicht der Intendant Martial Daru aus, der die Aufmerksamkeit gegen meine, ihm doch persönlich unbekannte Fürstin so weit trieb, daß er gleichsam allen ihren Wünschen, wenn er sie von mir nur angedeutet vernahm, entgegenzukommen suchte.« ... Ein Vergleich mit der Gegenwart liegt nahe, allerdings nicht zum Vorteil der heutigen Franzosen.

Es kann nicht der Zweck dieses Vorworts sein, die französische oder italienische Umwelt, in der Beyle den größten Teil seines Lebens verbracht hat, in ähnlicher Weise zu skizzieren, denn er hat beide in seinen italienischen und französischen Reiseschriften und in seinen Romanen mit Meisterhand selbst gezeichnet. Ebensowenig soll hier ein Lebensabriß Beyles vorausgeschickt werden, um die verschiedenen Teile seiner Selbstschilderung lückenlos aneinander zu ketten. Dies wird vielmehr der Mitarbeit des Lesers überlassen. Nur für Stendhals Lebensabend, der hier fast nur durch seine lakonischen Testamente vertreten ist, soll weiter unten eine biographische Einstellung erfolgen. Und hier mögen noch ein paar Betrachtungen über seine freudlose Kindheit und Jugend in Grenoble folgen, die er im Leben des »Henri Brulard« so tiefbohrend geschildert hat.

  • Text-Herkunft: Gemeinfrei
  • Text-ID 6059
  • Hinzugefügt am 06. Aug 2014 - 06:52 Uhr

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Einsteller: sophie-clark

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