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Sammlung: Scholem Alejchem 03

Mit der Etappe Teil 01

1859-1916, Scholem Alejchem

1. Kapitel. Haman Iwanowitsch Plissetzki

So hieß der neue Polizeileutnant, der nach Teplik kam. Sein richtiger Name war Agamemnon Afonegonowitsch, aber die Tepliker Juden, die jedem gern einen Beinamen gaben, nannten ihn anders, und zwar aus zwei Gründen: erstens war Haman Iwanowitsch kürzer und leichter auszusprechen – wie mußte man den Mund voll nehmen, um Agamemnon Afonegonowitsch zu sagen –, zweitens hat es, seitdem die Stadt Teplik existiert, noch niemals einen Polizeileutnant gegeben von der Art Hamans Iwanowitsch Plissetzkis. Teplik hat Polizeileutnants aller Art gehabt, gute und schlechte, bestechliche und unbestechliche. Das heißt, solche, die gar nichts nehmen, gibt es überhaupt nicht; ein kleines Geschenk zum Feiertag oder zu Neujahr oder eine Aufmerksamkeit zum Geburtstag rechnete nicht mit. Wer wollte darauf verzichten? ... Wir sind alle einmal geboren worden, und der Geburtstag ist von jeher ein Feiertag, – eine Sitte, die, wie wir aus der Thora wissen, schon zu Pharaos Zeiten in Ägypten bekannt war. Pharao gab an seinem Geburtstag eine große Mahlzeit für alle seine Knechte, – der Truchseß wurde aus dem Gefängnis befreit, der Bäcker an einem Baum aufgehängt – gemäß dem Traum, den Joseph dem König drei Tage zuvor gedeutet hatte ...

Als der »Pristaw« – so lautete sein Rang in der amtlich russischen Sprache – nach Teplik kam, begann er zu allererst das Städtchen zu reinigen. Was heißt reinigen? ... Zunächst rottete er die Tepliker Pferdediebe, die in der ganzen Welt bekannt waren, in einem oder zwei Monaten aus. Nicht ein einziger für den Notfall blieb zurück. Sobald er gegen jemand auch nur den geringsten Verdacht gefaßt hatte, ließ er ihn ohne lange Umstände festnehmen und schickte ihn sofort per Etappe nach dem Gefängnis. Dort sollte mit ihm abgerechnet werden.

Sodann nahm er die Straßen und die Juden vor. Er verlangte, daß die Straßen rein gehalten werden, der Kehricht aus den Häusern nicht auf den Damm, den Leuten ins Gesicht hinuntergeschüttet werde, schmutziges Wasser nicht vor den Türen ausgegossen werde, und daß überhaupt auf Ordnung gehalten werde. Von den Juden verlangte er, daß sie am Sonntag bis Mittag die Geschäfte schließen, daß die Lehrer ohne besondere Erlaubnis nicht unterrichten und daß der Draht, den die frommen Juden um die Stadt gezogen hatten, entfernt werde ... Es würde ohne diesen Telegraphendraht auch gehen, meinte er ... Auch wenn sich die Juden in der Synagoge herumschlugen und wegen eines Ehrenamts ereiferten und sich mit Ohrfeigen traktierten, mischte er sich hinein. Solch ein Halunke war er!

Daß die Geschäfte geschlossen wurden – ging ohne weiteres durch. Kam es einmal vor, daß einer nicht ganz pünktlich bis zwölf Uhr den Laden geschlossen hielt, so übersah er es ... Was blieb ihm auch anderes übrig? ... Er tat, was er konnte, aber den Wächter für jüdische Geschäfte zu spielen und aufzupassen, ob einer die Ladentür halb offen stehen ließ ... das war unmöglich! Wegen des Drahts hatte er in der ersten Zeit Verdruß. Am Freitag abend wurde der Draht trotz des Verbotes gezogen, am Sonnabend morgen ließ er ihn abreißen. Aber am nächsten Sonnabend tauchte ein neuer Draht auf, und so ging es mehrere Wochen hintereinander. Obgleich er den Wächtern befahl, aufzupassen, wer den Draht aufzog, gelang es nicht, den Spitzbuben abzufassen. Da entschloß er sich, persönlich Wache zu stehen; er pflanzte sich in einer versteckten Ecke auf und stand die ganze Nacht grübelnd und singend da. Erst gegen Morgen faßte er den Sohn des Synagogendieners, Pejse, ab, als er gerade damit beschäftigt war, den Draht zu befestigen. Er packte ihn bei dem linken Ohr, führte ihn zum Polizeirevier und ließ ihn für einen ganzen Tag einsperren. Seit jenem Tage blieb Teplik bis auf den heutigen Tag ohne Draht. Die Einwohner machten sich nichts mehr daraus, auch ohne diese Vorrichtung ihre Taschentücher und Uhren am Sonnabend bei sich zu tragen, während ihnen das früher nur gestattet war, wenn ein Draht durch die Stadt gezogen wurde.

Schlimmer war der Kampf, den er mit den Lehrern durchführen mußte. Die Lehrer machten ihm das Leben unglaublich schwer. Kaum hatte er einen Lehrer mit zwanzig Schülern in einer Straße abgefaßt und die Schule geschlossen, so fand er denselben Lehrer mit denselben Schülern am nächsten Tag in einer anderen Straße. Er schloß die Schule wieder und nahm ein Protokoll auf; aber kaum hatte er Zeit, sich weiter umzuschauen, als der Lehrer sich auf einem Boden oder in einer Frauenschule verkrochen hatte und von dort den Gesang seiner Schüler laut erschallen ließ. Ein wahres Unglück mit den jüdischen Kindern! Sie waren nicht von dem Lehrer loszureißen!

»Hol dich der Kuckuck! Hast du dich mit deinen Schülern auf dem Boden verkrochen, so pauke mit ihnen meinetwegen, bis ihnen die Köpfe platzen, aber mach wenigstens nicht solchen Lärm, daß ich es höre,« sagte Plissetzki zu dem Lehrer und schwor, daß, wenn er ihn noch einmal erwischen sollte, er ihn innerhalb vierundzwanzig Stunden aus Teplik ausweisen würde.

Der Lehrer hörte aufmerksam zu, verließ seine bisherige Zuflucht und stieg von oben in irgendeinen Keller hinunter. Dort unterrichtete er weiter, aber er ließ die Schüler auch singen, denn Unterricht ohne Gesang war ungefähr dasselbe wie eine kalte Kugelspeise, die die vornehmen Leute in der Großstadt am Wochentag aßen. Haman Iwanowitsch schlug sich so lange mit dem Lehrer herum, bis er schließlich wütend ausspie und den Kampf aufgab.

2. Kapitel. Der Tepliker Millionär Schalom Beer Tepliker aus Teplik.

Da Teplik hauptsächlich von Juden bewohnt war, hatte der Tepliker Polizeileutnant ausschließlich mit Juden zu tun. Er kannte sehr bald sämtliche Einwohner von Teplik beim Namen, war in alle ihre Geheimnisse eingeweiht, sprach mit ihnen halb jiddisch und wurde zugänglich und weich wie Wachs – mit einem Wort: zwischen ihm und den Juden hatte sich ein vertrauliches Verhältnis herausgebildet.

Als die reichen, feinen Leute, die Wichtigtuer, die überall gern regierten, merkten, daß der Beamte zugänglich wurde, begannen sie ihn zunächst mit einem Stückchen Fisch, einem Glas Schnaps und einem Stück Mazze zu bestechen, dann versuchten sie es mit Schmeicheleien und steckten ihm vorsichtig etwas in die Hand zu. Das bekam ihnen aber so schlecht, daß sie ihre Kindeskinder warnen wollten, einem Polizeileutnant niemals früher etwas zu geben, ehe man nicht genau wußte, wer und was er war.

»Du glaubst, mich mit Geld bestechen zu können, Joßke,« sagte er zu einem Juden auf russisch, »du bist also ein Betrüger! Ins Gefängnis mit dir!«

Die Worte: »Ins Gefängnis mit dir!« hatte er immer auf der Zunge. Das bedeutete, daß er die Leute einsperren oder mit der Etappe nach der Gouvernementstadt schickte. Hatte er diese Worte einmal gesagt, so half nichts mehr: kein König von Ost oder West hätte etwas ausrichten können. Ein merkwürdiger Patron war er! Weiß der Teufel! Traf er einen armen Mann, der nicht zu leben hatte, so gab er ihm aus seiner eigenen Tasche einen Rubel oder auch zwei und sagte zu ihm, halb jiddisch, halb russisch: »Da, nimm eine kleine Anleihe für deine Ausgaben!«

So viel Mitleid er mit den armen Leuten empfand, so sehr haßte er die reichen. Und gar erst die reichen Leute in Teplik, oder gar den Tepliker Millionär Schalom Beer Tepliker aus Teplik! Den konnte er überhaupt nicht ausstehen! Er suchte schon immer nach einer Gelegenheit, ihn abzufassen; aber es war nicht so leicht, ihm beizukommen. Endlich half ihm Gott, ihn zu erwischen!

Die Sache spielte sich folgendermaßen ab:

Scholem Beer Tepliker aus Teplik war nicht nur reich, sondern trotzig, stolz und von einer eisernen Energie. Wenn er sich etwas vornahm, wenn er etwas durchführen wollte, so wäre es leichter gewesen, ganz Teplik an eine andere Stelle zu versetzen, als ihn von seinem Entschluß abzubringen.

Als Haman Iwanowitsch den Befehl erlassen hatte, daß der Kehricht nicht hinausgeworfen und das schmutzige Wasser nicht vor die Türen gegossen werden dürfe, fragte Scholem Beer Tepliker aus Teplik:

»Wen kümmert das? Es ist mein Kehricht und, mein Schmutzwasser, ich kann also damit tun, was ich will!«

»Reb Schalom Beer,« versuchte man ihm zu erklären, »wenn Haman Iwanowitsch es sieht, kann es schlimm werden.«

»Was kann er mir ...« erwiderte Schalom Beer, der nicht gern viel redete.

»Reb Schalom Beer, er wird Euch zu Protokoll nehmen!«

»Soll er ... siebenundsiebzigmal ...«

»Reb Scholem Beer, man kann, Gott behüte, vor Eurem Haus ausgleiten und sich den Fuß brechen!«

»Soll man sich das Genick brechen!« antwortete Scholem Beer und befahl so viel Kehricht und Schmutzwasser auszuschütten, wie es nur gab.

Plissetzki kam mit einem Schutzmann zu ihm und nahm Protokoll auf. Da begann Scholem Beer mit ihm ein ausführliches Gespräch, wie es sich ein reicher Mann gestatten konnte. Aber Plissetzki gebot ihm, zu schweigen, und sagte: »Jüdische Aufdringlichkeit! Schweig, Judenfratze!« und andere schöne Redensarten mehr.

Das ärgerte unseren Millionär; er nannte den »Pristaw« – »Haman«, sagte ihm vor Zeugen, er wäre ein wahrer Haman, der Haman aus der Bibel. Das wurde zu Protokoll genommen, und Reb Scholem Beer Tepliker aus Teplik wurde laut gesetzlicher Bestimmung zu zwei Wochen Arrest verurteilt. Keine Macht der Welt konnte daran etwas ändern! Natürlich war ganz Teplik durch dieses Ereignis in Aufregung versetzt. Was heißt! Der Millionär zu zwei Wochen Arrest verurteilt! Die ganze Stadt ging mit, um zu sehen, wie Reb Scholem Beer zur Wache abgeführt wurde. Kein Kind blieb, wie man zu sagen pflegt, in der Wiege zurück.

Als Reb Scholem Beer über den Markt geführt wurde, ließ er den Kopf sinken, und seine Frau, Staßje Peril, die Millionärin, blieb vor Schande zu Hause. Die Einwohner von Teplik betrachteten schweigend den Vorüberziehenden, aber im Innern freuten sie sich. Erstens sollte sich ein Jude nicht so groß tun, und zweitens war Scholem Beer Tepliker aus Teplik in der Stadt nicht besonders beliebt, weil er – es soll ihm nicht nachgesagt werden – ein großer Geizhals war. Auch seine Frau, Staßje Peril, gönnte einem armen Juden nicht ein Stückchen Brot, obwohl sie, wie in Teplik behauptet wurde, bis über den Hals im Geld steckten und keine Kinder hatten. »Wenn ich ihr Geld hätte,« dachte jeder Tepliker, und er gab gleich nach, »wenn ich nur die Hälfte, ja nur ein Drittel von ihrem Vermögen besäße, so hätte die Stadt von mir viel, viel mehr!« Das wäre wohl möglich gewesen! Da aber in Teplik niemand Geld hatte, außer Reb Scholem Beer Tepliker und seiner Frau, Staßje Peril, so hatte die Stadt keinen Gewinn. Niemand hatte von dem Geld Freude, weder die Stadt, noch Schalom Beer, der Millionär, noch seine Frau, die Millionärin ... Oder vielleicht hatten diese beiden am Ende doch ihren Genuß! Es fragt sich nur, was man unter Freude versteht: Überall den ersten Platz einzunehmen – in der Synagoge, in einer Versammlung oder bei einem Fest; von den Leuten ehrerbietig gegrüßt zu werden; daß alles schwieg, wenn Ihr redetet, wenn jedes Wort, das aus Eurem Munde kam, als eine Weisheit aufgenommen wurde. War es kein Vergnügen, wenn man einmal im Jahr, am letzten Tage des Laubhüttenfestes, sich bei dem Millionär Scholem Beer Tepliker aus Teplik versammelte und dort bewirtet, sozusagen bewirtet wurde! Der Hausherr saß wie ein König auf seinem Thron, an der Spitze der Tafel und bot den Gästen Schnaps an, während Staßje Peril in die Gläser guckte. Man sang und tanzte auch ein wenig. Noch andere Freuden gab es, die aber nur jemand verstehen konnte, der aus Teplik war. War es nicht ein Vergnügen zu wissen, daß man in der Stadt der Einzige war, der etwas zu sagen hatte?!

In Teplik war dieser einzige – Scholem Beer Tepliker!

3. Kapitel. Ein lustiger Habenichts.

Wenn es in Teplik keine Anzeiger gegeben hatte, die aufeinander aufpaßten, damit keine Verbrechen und Missetaten geschehen, so würde es der Sündenstadt Sodom geglichen haben. Aber die Leute paßten aufeinander eifrig auf, und sobald sie merkten, daß einem anderen Unrecht geschah, oder wenn sie sahen oder hörten oder auch nur den Verdacht hatten, daß jemand etwas Unrechtes getan hatte, so teilten sie der Polizei sofort in kurzen Worten mit, was passiert war. Wenn die Polizei es nicht glauben wolle, solle sie sich da und da hinbemühen, da würde sie das und das vorfinden. Sollte es sich herausstellen, daß nichts dahinter war, dann konnte einem nichts passieren, weil man nicht den eigenen Namen zu unterzeichnen brauchte, man unterschrieb vielmehr: ›Ein aufrichtiger Mensch‹, oder ›Ein guter Freund‹, oder ›Ein Freund des Gesetzes‹; oder man brauchte überhaupt nichts darunterzuschreiben, die Hauptsache war, wenn man angab, wohin die Polizei sich begeben und wonach sie forschen sollte.

Plissetzki konnte sich unberufen rühmen, daß er keine Spione brauchte, weil die Tepliker Bürger selbst vorzügliche Spione waren.

Nach dem oben Gesagten werdet ihr nicht erstaunt sein zu hören, daß eines schönen Morgens der rote Beril mit dem lahmen Bein überrascht wurde, gerade als er auf der Erde saß, die Rockschöße im Gürtel hochgeschürzt, und Rosinenwein aus einer großen Flasche in kleine füllte, um sie für das Segengebet am Sabbat zu verkaufen. Er biß die Propfen mit großem Eifer weich und propfte die Flaschen zu, indem er mit fester Hand daraufschlug. Der Schweiß rannte ihm dabei von der Stirn. Plissetzki öffnete vorsichtig die Tür und beobachtete den roten Beril bei seiner fleißigen Arbeit; er stand eine Weile auf der Schwelle und verständigte sich mit den Schutzleuten durch Blicke. Als Beril die Augen erhob und Haman Iwanowitsch an der Tür stehen sah, richtete er sich von der Erde auf, humpelte mit seinem lahmen Bein auf ihn zu und sah ihm in die Augen, als ob er sagen wollte:

›Du wirst mir wahrscheinlich eine Geldstrafe auferlegen ... Nun, straf mich ... Was kannst du mir abnehmen? Meine Armut?‹

Wie kommt es, daß unser Beril sich so wichtig tat? ... Weil er nichts zu fürchten brauchte? ...

Er braute wirklich Rosinenwein, den er in Flaschen füllte und seinen Bekannten zum Sabbatabend lieferte. Davon lebte er. Aber es war ein Wein mit Ach und Weh und ein Leben mit Ach und Weh. Der Wein war kein Wein, und das Leben war kein Leben.

Nur damit die Leute etwas hatten, den Segensspruch zu sagen, dafür war der Wein gut genug und immer noch besser als einfacher Schnaps. Und Beril hatte immerhin eine Beschäftigung, die ihm etwas einbrachte, wenn auch nicht viel mehr als das Salz zum Brot. Besser als nichts! Oh, weh, wie viele Juden gab es in Teplik, die nichts taten und nichts verdienten, nichts verdienten und nichts hatten, wirklich gar nichts.

Jene unwürdigen Juden, die nicht arbeiteten und nichts verdienten, beneideten den roten Beril, der wie ein Magnat lebte, jeden Sabbat Fisch und Fleisch hatte, die Kinder zur Schule schickte und anständig kleidete, eine Ziege hielt und – das alles von den bißchen Rosinen, die er zu Wein zermanschte. Da schrieben sie einen Brief an Plissetzki der mit folgenden Worten begann:

»Da wir stets für die Regierung Interesse haben, und da es zum Nachteil der Regierung ist, wenn jemand ohne Konzession Geschäfte macht, und da der rote Beril mit dem lahmen Bein seit so vielen Jahren ohne Konzession mit Wein handelt und derselbe rote Beril den Wein selbst anfertigt und die Fabrikation von Beril stammt und so weiter ...«

Mit dem Selbstbewußtsein eines armen Mannes ist nicht zu spaßen. Je ärmer einer ist, um so selbstbewußter ist er auch, schlimmer als der reichste Mann. Ich hörte selbst, wie ein armer Mann sich mit einem anderen auseinandersetzte.

»Wie kannst du dich mit mir vergleichen, du räudiger Kerl? Du besitzt noch ein paar ganze Schuhe und ein Stück Mantel ... ich habe nicht einen Schimmer davon.«

Er sagte dies mit solchem Stolz, daß ein Rotschild tief gedemütigt wäre, wenn er dabeigestanden und es gehört hätte.

Haman Iwanowitsch betrachtete inzwischen die »Appartements« Berils des Roten, die aus drei Zimmern bestanden, das heißt aus zwei Alkoven und einer Küche. Sämtliche drei Räume waren mit Betten vollgestellt, und die Betten mit Kindern besetzt. Die Kinder waren halb angezogen, halb nackt, nämlich vom Hals bis zum Nabel waren sie angezogen, vom Nabel abwärts waren sie nackt, selbstverständlich auch barfuß ... Für dieses halbnackte, barfüßige Gesindel war der »Pristaw« eine willkommene Person, eine ganz neue Erscheinung. Sie waren nicht faul, sprangen aus den Betten, schlichen sich langsam zu dem feinen Herrn, sahen ihm ins Gesicht, betrachteten die goldenen Knöpfe und befaßten die Franse seines Säbels. Plissetzki führte unterdessen ein Gespräch mit dem roten Beril, das wir hier wörtlich wiedergeben:

Plissetzki: Wie man mir über dich berichtete, sollst du schönes Geld verdienen?

Beril: Unberufen, gebe Gott, daß es nicht schlimmer werde. Für besser gibt's keine Grenze.

Plissetzki: Warum gehen deine Kinder nackt und barfuß?

Beril: Damit sie besser wachsen.

Plissetzki: Und was machst du mit dem Geld?

Beril: Ich tue, was der Talmud uns lehrt.

Plissetzki: Der Talmud? Was lehrt euch der Talmud?

Beril: Der Talmud lehrt uns, das Geld in drei Teile zu teilen: ein Drittel – in die Erde, ein Drittel bar halten, ein Drittel ins Geschäft stecken.

Plissetzki: Ich sehe, du bist ein lustiger Kauz.

Beril: Was habe ich für Sorgen? Was fehlt mir und was habe ich? Sag mir lieber, hochverehrter Herr, was haben dir die Juden über mich berichtet, und was droht mir nach deinem heutigen Besuch?

Plissetzki: Wenn du alles wissen willst, wirst du schnell alt werden. Zeig mir einmal alle deine Schränke, ich muß eine Untersuchung bei dir vornehmen. Vielleicht finde ich bei dir außer Wein noch andere Sachen?

Beril: Ach, mit dem größten Vergnügen! Wenn du etwa Wertpapiere, Gold oder Silber finden solltest, so soll die Hälfte mir, die Hälfte dir gehören.

Plissetzki: Du hast Humor, ist es Galgenhumor?

Beril: Mag sein. Niemand weiß, wem der morgige Tag gehört. Im Talmud heißt es: Tue Buße einen Tag vor deinem Tode. Da aber kein Mensch weiß, wann der Todesengel ihn bei der Kehle packt, so ...

An dieser Stelle unterbrach ihn der Polizeileutnant; er rief die Schutzleute herein und befahl, den Juden einzusperren. Als Beril das hörte, erstarrten seine Glieder; im ganzen Hause erhob sich ein Jammern, als ob man einen Toten heraustragen würde.

In Teplik wurde die Sache selbstverständlich sehr bald bekannt, man erzählte sie sich an allen Enden, und die Leute liefen aus allen Straßen herbei, um zu sehen, wie man noch einen Juden ohne Grund ins Gefängnis abführte, das heißt, man hatte den Grund bereits erfahren. Wie wäre es auch in Teplik möglich gewesen, etwas nicht zu erfahren, besonders als man bemerkte, daß Haman Iwanowitsch eine Flasche Wein unter dem Arm trug. Man hätte nur gern gewußt, wozu er verurteilt werden würde, zu einer Geldstrafe oder zu Gefängnis? Hierüber zerbrachen sich die Tepliker Juden die Köpfe und empfanden mit dem armen Beril viel mehr Mitleid als mit dem reichen Scholem Beer. Aber sie konnten ihm nicht anders helfen, als nur mit ihm seufzen.

4. Kapitel. Noch ein Verbrecher.

Haman Iwanowitsch machte sich an diesem Tage noch auf eine andere Art an die Tepliker Juden heran, und es gelang ihm, einen Juden zu erwischen, der eigentlich nichts verschuldet hatte. Die Sache trug sich folgendermaßen zu:

In Teplik gab es einen jungen Mann, Henich, der einen älteren Bruder namens David Leib hatte. Dieser David Leib wollte von der Musterungskommission einen Schein für seinen Bruder erlangen, der nach Davids Aussage und laut den Papieren, die er einreichte, noch nicht achtzehn Jahre alt war. Aber es genügte nicht, daß ein Jude Papiere vorlegte; zur Feststellung des Alters mußte die betreffende Person selbst in Augenschein genommen werden.

Plissetzki erhielt also eines Tages ein Dokument, das er Henich zustellen sollte; da er jeden Auftrag sofort auszuführen pflegte, schickte er einen Schutzmann hin, der den Jüngling direkt aus dem Bett heranschleppte.

Henich war von blasser Gesichtsfarbe, schielte mit einem Auge, hatte auf dem anderen den blauen Star und wackelte mit dem Kopf. Vor Schreck, daß man ihn so unerwartet aus dem Hause geschleppt hatte, ohne daß er wußte wofür, gebärdete er sich so wild, daß er auf den Polizeileutnant den schlechtesten Eindruck machte.

Es entspann sich ein kurzes, aber heftiges Gespräch:

»Bist du Henich, der Nascher?« fragte ihn Plissetzki, indem er den Jüngling von oben bis unten anschaute.

»Der bin ich, Henich, der Nascher,« antwortete ihm Henich hastig. Im selben Augenblick fiel ihm ein, daß man ihn wahrscheinlich wegen seines Bruders David Leib gerufen hatte, und er beantwortete die Frage, noch bevor sie an ihn gerichtet wurde:

»Ich bin noch nicht achtzehn Jahre alt, so wahr ich ein Jude bin!«

»So? Die Sonnabende und Feiertage nicht mitgerechnet,« erwiderte Plissetzki und blickte dem Jüngling in die Augen, wobei er den Star bemerkte. Bei diesem Blick wurde Henich ganz finster vor Augen, ein kalter Schauer durchrieselte seinen Körper, sein Herz preßte sich ihm zusammen, und traurige Gedanken durchzuckten sein Hirn.

»Aus mit dem Schein! Verfallen – David Leib!« dachte Henich. Er hätte dem armen Bruder so gern den Gefallen erwiesen – sich statt seiner zu stellen, – er ermannte sich also und begann plötzlich in einem Kauderwelsch zu reden.

»Ich schwöre Euch, daß ich nicht älter bin als siebzehn Jahre, vielleicht einen Monat darunter oder darüber. Ich soll so glücklich nach Hause kommen! Ich sehe älter aus? Ja? Das ist aber nicht wahr. Achtet nicht drauf! Wir sind solche Rasse! Vom fünfzehnten Jahr zeigt sich bei uns schon Bartwuchs!«

Plissetzki schaute Henich an, schüttelte den Kopf und lächelte, als wollte er sagen:

»Zu dem Star auf dem Auge und der totenbleichen Larve paßt das Bärtchen wahrhaftig gut!«

Dann sagte er zu dem Diener, er solle Henich, während er die Papiere durchsah, hinunterführen.

Henich verlor plötzlich allen Mut. Sein Gesicht wurde noch fahler, er begrub seinen armen Bruder auf ewig.

»Ach, unglückseliger David Leib, es ist aus mit dir!«

*

»Menschenkind, Vogelfratze, watschelnde Ente! Wie kommst du denn hierher! Was hast du denn angestellt? Wer hat dich angezeigt?« rief der rote Beril dem Ankömmling, dem Jüngling Henich, zu.

Der reiche Scholem Beer Tepliker aus Teplik betrachtete ihn unterdessen vom Kopf bis zu den Füßen, als wäre er ein Dieb, den man soeben erfaßt hätte. Henich starrte seinerseits den Tepliker Millionär nicht weniger erstaunt an. Als er diesen Wichtigtuer, den reichsten Mann von Teplik, hier sah, begann er zu stammeln und wußte selbst nicht, was er redete. Der rote Beril, der bekanntlich ein lustiger Kauz war und gern witzelte, auch wenn er keinen Heller für den Sabbat in der Tasche hatte, tat vor dem Jüngling, als wäre er ein begüterter Mann und spottete über den tölpelhaften Henich, – wie es seine Art war, wenn er armen Leuten begegnete, die noch größere Pechvögel waren als er. Um dem reichen Mann Freude zu erweisen, stellte er sich auf dessen Seite.

Unterdessen hörte Henich nicht auf zu stammeln:

»O weh mir! Was ist mir da passiert ... Ich weiß nicht für was ... Mein Bruder David Leib ... Wenn sie etwa dahinterkommen, daß ich älter bin als achtzehn, dann ist er, Gott behüte, verloren ...«

»Was schnalzt du da mit den Lippen, Narr?« unterbrach ihn der rote Beril. »Sprich deutlich, Tölpel!«

»Ich sage, was aus meinem Bruder David Leib wird,« erwiderte Henich.

Im selben Augenblick richtete er sich plötzlich auf und fragte den roten Beril:

»Sagt, wie sehe ich in Euren Augen aus?«

»Wie du aussiehst? Du siehst aus wie eine rote Kuh,« antwortete Beril, über seinen eigenen Witz lachend, und sah zu dem reichen Schalom Beer hinüber, ob er mitlachte. Aber dieser lachte nicht, sondern war in den Anblick des Tölpels Henich versunken und wunderte sich, wozu ein solches verkrüppeltes und entstelltes Geschöpf auf der Welt lebte.

»Nein,« sagte Henich, indem er mit dem schielenden Auge den reichen Juden anstarrte und mit dem Starauge Beril ansah, »das meine ich nicht, ich meine, wie viele Jahre Ihr mir gebt?«

»Was gebe ich dir?«

»Jahre, meine ich, mein Herr!«

»Ach, du willst wissen, für wie alt ich dich halte! Ich schätze dich nicht älter als zweiundzwanzig, vielleicht etwas darüber.«

Henich stieß vor Zorn einen lauten Schrei aus, stürzte auf den roten Beril, als ob dieser ihn zur Schlachtbank führen wollte, und kreischte. »Verrückter Kerl, was fällt dir ein! Was redest du! Wart nur! David Leib ist erst vor kurzem zwanzig Jahre geworden ... das ist richtig, zweiundeinhalb Jahr ist er älter als ich, im ganzen zwei und ein halbes Jahr ... Also, wie kann die Rechnung stimmen? Wie alt muß ich dann sein? ... Nur, um zu reden!« Henich sah dabei so hilflos und traurig aus, auf seinem Gesicht malte sich solche erbarmenerregende Trostlosigkeit, daß selbst der Reiche für ihn Interesse gewann und sich an ihn mit der Frage wandte:

»Ihr seid zwei Brüder, wie es scheint?«

»Zwei Brüder und eine alte Mutter und ein Mädchen von dreizehn Jahren, die in Stellung ist; ein jüngerer Bruder ist im Geschäft angestellt, dann sind noch zwei kleine Mädchen und ein kleiner Junge, der noch zur Schule geht ... Für alle muß David sorgen ... Wenn er, Gott behüte, genommen werden sollte, dann können wir alle in die Häuser betteln gehen ...« Henich erzählte, wie die ganze Geschichte mit der Musterungskommission gekommen war. Wahrscheinlich hatte jemand angezeigt, daß David über achtzehn Jahre alt war und sich noch nicht zur Musterung gestellt hatte, obgleich er bei der Thora schwören kann, daß er, Henich, noch nicht achtzehn Jahre alt ist ... Nur wie zum Trotz wuchs ihm schon der Bart, und alle Leute sagen, daß er wie zwanzig oder noch älter aussieht. Wenn es danach ginge, müßte David doch auch einen Bart haben. Indessen hat er keine Spur von Bart. Was werden sie aber anfangen, wenn David, Gott behüte, wegkommt? Henich wandte sich mit seinem Starauge zur Seite, hüstelte, schnäuzte sich und wischte sich die Augen.

»Bedauernswert!« entschlüpfte es dem Reichen unwillkürlich.

»Ein Trottel!« bestätigte der rote Beril dem Reichen mit einem leisen Lächeln, das zugleich Spott und Mitleid ausdrückte. »Dieser Henich,« fuhr er fort, »wie Ihr ihn hier seht, ist ein Trottel, und sein Bruder – ich kenne ihn – ist geradezu ein Garnichts! Er taugt zu einem Soldaten gerade so gut, wie ich ...« Und zum Beweis, daß er, der rote Beril, wirklich nicht zum Soldaten taugte, rückte er sein lahmes Bein vor.

  • Text-Herkunft: Gemeinfrei
  • Text-ID 3977
  • Hinzugefügt am 31. Jan 2014 - 21:22 Uhr

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Einsteller: sophie-clark

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