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Collection: Otto von Bismarck

Gedanken und Erinnerungen Teil 01

1815-1898, Otto von Bismarck


 

 

I.

Als normales Produkt unsres staatlichen Unterrichts verließ ich Ostern 1832 die Schule als Pantheist, und wenn nicht als Republikaner, doch mit der Überzeugung, daß die Republik die vernünftigste Staatsform sei, und mit Nachdenken über die Ursachen, welche Millionen von Menschen bestimmen könnten, einem dauernd zu gehorchen, während ich von Erwachsenen manche bittere oder geringschätzige Kritik über die Herrscher hören konnte. Dazu hatte ich von der turnerischen Vorschule mit Jahn'schen Traditionen (Plamann), in der ich vom sechsten bis zum zwölften Jahre gelebt, deutsch-nationale Eindrücke mitgebracht. Diese blieben im Stadium theoretischer Betrachtungen und waren nicht stark genug, um angeborene preußisch-monarchische Gefühle auszutilgen. Meine geschichtlichen Sympathien blieben auf Seiten der Autorität. Harmodius und Aristogiton sowohl wie Brutus waren für mein kindliches Rechtsgefühl Verbrecher und Tell ein Rebell und Mörder. Jeder deutsche Fürst, der vor dem Dreißigjährigen Krieg dem Kaiser widerstrebte, ärgerte mich; vom Großen Kurfürsten an aber war ich parteiisch genug, antikaiserlich zu urteilen und natürlich zu finden, daß der Siebenjährige Krieg sich vorbereitete. Doch blieb mein deutsches Nationalgefühl so stark, daß ich im Anfang der Universitätszeit zunächst zur Burschenschaft in Beziehung geriet, welche die Pflege des nationalen Gefühls als ihren Zweck bezeichnete. Aber bei persönlicher Bekanntschaft mit ihren Mitgliedern mißfielen mir ihre Weigerung, Satisfaktion zu geben, und ihr Mangel an äußerlicher Erziehung und an Formen der guten Gesellschaft, bei näherer Bekanntschaft auch die Extravaganz ihrer politischen Auffassungen, die auf einem Mangel an Bildung und an Kenntnis der vorhandnen, historisch gewordenen Lebensverhältnisse beruhte, von denen ich bei meinen siebzehn Jahren mehr zu beobachten Gelegenheit gehabt hatte als die meisten jener durchschnittlich ältern Studenten. Ich hatte den Eindruck einer Verbindung von Utopie und Mangel an Erziehung. Gleichwohl bewahrte ich innerlich meine nationalen Empfindungen und den Glauben, daß die Entwicklung der nächsten Zukunft uns zur deutschen Einheit führen werde; ich ging mit meinem amerikanischen Freund Coffin die Wette darauf ein, daß dieses Ziel in zwanzig Jahren erreicht sein werde.

In mein erstes Semester fiel die Hambacher Feier (27. Mai 1832), deren Festgesang mir in der Erinnerung geblieben ist, in mein drittes der Frankfurter Putsch (3. April 1833). Diese Erscheinungen stießen mich ab, meiner preußischen Schulung widerstrebten chaotische Eingriffe in die staatliche Ordnung; ich kam nach Berlin mit weniger liberaler Gesinnung zurück, als ich es verlassen hatte, eine Reaktion, die sich wieder abschwächte, nachdem ich mit dem staatlichen Räderwerke in unmittelbare Beziehung getreten war. Was ich etwa über auswärtige Politik dachte, mit der das Publikum sich damals wenig beschäftigte, war im Sinne der Freiheitskriege, vom preußischen Offizierstandpunkt gesehen. Beim Blick auf die Landkarte ärgerte mich der französische Besitz von Straßburg, und der Besuch von Heidelberg, Speyer und der Pfalz stimmte mich rachsüchtig und kriegslustig. In der Zeit vor 1848 war für einen Kammergerichts-Auskultator und Regierungs-Referendar, dem jede Beziehung zu ministeriellen und höheren amtlichen Kreisen fehlte, kaum eine Aussicht zu einer Beteiligung an der preußischen Politik vorhanden, so lange er nicht den einförmigen Weg zurückgelegt hatte, der durch die Stufen der bürokratischen Laufbahn nach Jahrzehnten dahin führen konnte, an den höheren Stellen bemerkt und herangezogen zu werden. Als mustergültige Vordermänner auf diesem Wege wurden mir im Familienkreise damals Männer wie Pommer-Esche und Delbrück vorgehalten, und als einzuschlagende Richtung die Arbeit an und in dem Zollvereine empfohlen. Ich hatte, so lange ich in dem damaligen Alter an eine Beamtenlaufbahn ernstlich dachte, die diplomatische im Auge, auch nachdem ich von Seiten des Ministers Ancillon bei meiner Meldung dazu wenig Ermutigung gefunden hatte. Derselbe bezeichnete nicht mir, aber hohen Kreisen gegenüber als Musterbild dessen, was unserer Diplomatie fehle, den Fürsten Felix Lichnowski, obwohl man hätte vermuten sollen, daß diese Persönlichkeit, wie sie sich damals in Berlin zur Anschauung brachte, der anerkennenden Würdigung eines der evangelischen Geistlichkeit entstammenden Ministers nicht grade nahe stände.

Der Minister hatte den Eindruck, daß die Kategorie unsres hausbackenen preußischen Landadels für unsere Diplomatie den ihm wünschenswerten Ersatz nicht lieferte und die Mängel, welche er an der Gewandheit des Personalbestandes dieses Dienstzweiges fand, zu decken nicht geeignet war. Dieser Eindruck war nicht ganz ohne Berechtigung. Ich habe als Minister stets ein lWohlwollen für eingeborene preußische Diplomaten gehabt, aber im dienstlichen Pflichtgefühle nur selten diese Vorliebe bestätigen können, in der Regel nur dann, wenn die Beteiligten aus einer militärischen Stellung in die diplomatische übergingen. Bei den rein preußischen Zivil-Diplomaten, welche der Wirkung militärischer Disziplin gar nicht oder unzureichend unterlegen hatten, habe ich in der Regel eine zu starke Neigung zur Kritik, zur Besserwisserei, zur Opposition und zu persönlichen Empfindlichkeiten gefunden, verstärkt durch die Unzufriedenheit, welche das Gerechtigkeitsgefühl des alten preußischen Edelmanns empfindet, wenn ein Standesgenosse ihm über den Kopf wächst oder außerhalb der militärischen Verhältnisse sein Vorgesetzter wird. In der Armee sind diese Kreise seit Jahrhunderten daran gewöhnt, daß das geschieht, und geben den Bodensatz ihrer Verstimmung gegen frühere Vorgesetzte an ihre späteren Untergebenen weiter, sobald sie selbst in höhere Stellen gelangt sind. In der Diplomatie kommt dazu, daß diejenigen unter den Anwärtern, welche Vermögen oder die zufällige Kenntnis fremder Sprachen, namentlich der französischen, besitzen, schon darin einen Grund zur Bevorzugung sehen und deshalb der oberen Leitung noch anspruchsvoller und zur Kritik geneigter gegenübertreten als andere. Sprachkenntnisse, wie auch Oberkellner sie besitzen, bildeten bei uns leicht die Unterlage des eigenen Glaubens an den Beruf zur Diplomatie. Ich habe manche unter unsern älteren Gesandten gekannt, die, ohne Verständnis für Politik, lediglich durch Sicherheit im Französischen in die höchsten Stellen aufrückten; und auch sie sagten in ihren Berichten doch nur das, was sie französisch geläufig zur Verfügung hatten. Ich habe noch 1862 von Petersburg französisch amtlich zu berichten gehabt, und die Gesandten, welche auch ihre Privatbriefe an den Minister französisch schrieben, empfahlen sich dadurch als besonders berufen zur Diplomatie, auch wenn sie politisch als urteilslos bekannt waren.

Außerdem kann ich Ancillon nicht Unrecht geben, wenn er von den meisten Anwärter aus unserm Landadel den Eindruck hatte, daß sie sich aus dem engen Gesichtskreis ihrer damaligen Berliner, man könnte sagen provinziellen Anschauungen schwer loslösen ließen, und daß es ihnen nicht leicht gelingen würde, den spezifisch preußischen Bürokraten in der Diplomatie mit dem Firnis des europäischen zu übertünchen. Die Wirkung dieser Wahrnehmungen zeigt sich deutlich, wenn man die Rangliste unsrer Diplomaten aus damaliger Zeit durchgeht; man wird erstaunt sein, so wenig geborene Preußen darin zu finden. Die Eigenschaft, der Sohn eines in Berlin akkreditierten fremden Gesandten zu sein, gab an sich einen Vorzug. Die an den kleinen Höfen erzogenen, in den preußischen Dienst übernommenen Diplomaten hatten nicht selten den Vorteil größerer Sicherheit in höfischen Kreisen und eines größern Mangels an Dummheit vor den eingeborenen. Ein Beispiel dieser Richtung war namentlich Herr von Schleinitz. Dann finden sich in der Liste Mitglieder standesherrlicher Häuser, bei denen die Abstammung die Begabung ersetzte. Aus der Zeit, als ich nach Frankfurt ernannt wurde, ist mir außer mir, dem Freiherrn Karl von Werther, Canitz und dem französisch verheirateten Grafen Max Hatzfeldt kaum der Chef einer ansehnlichen Mission preußischer Abstammung erinnerlich. Ausländische Namen standen höher im Kurse: Brassier, Perponcher, Savigny, Oriola. Man setzte bei ihnen größere Geläufigkeit im Französischen voraus, und sie waren »weiter her«, dazu trat [bei den Diplomaten preußischer Abkunft der Mangel an Bereitwilligkeit zur Übernahme eigner Verantwortlichkeit bei fehlender Deckung durch zweifellose Instruktion, ähnlich wie im Militär 1806 bei der alten Schule aus Friederikianischer Zeit. Wir züchteten schon damals das Offiziersmaterial bis zum Regiments-Kommandeur in einer Vollkommenheit wie kein andrer Staat, aber darüber hinaus war das eingeborene preußische Blut nicht mehr fruchtbar an Begabungen wie zur Zeit Friedrichs des Großen selbst. Unsere erfolgreichsten Feldherrn, Blücher, Gneisenau**, Moltke, Goeben, waren keine preußischen Urprodukte, ebensowenig im Zivildienste Stein, Hardenberg, Motz und Grolman. Es ist, als ob unsre Staatsmänner wie die Bäume in den Baumschulen zu voller Wurzelbildung der Versetzung bedürften.

Ancillon riet mir, zunächst das Examen als Regierungs-Assessor zu machen und dann auf dem Umwege durch die Zollvereinsgeschäfte Eintritt in die deutsche Diplomatie Preußens zu suchen; einen Beruf für die europäische erwartete er also bei einem Sprößling des einheimischen Landadels nicht. Ich nahm mir seine Andeutung zu Herzen und beabsichtigte, zunächst das Examen als Regierungs-Assessor zu machen.

Die Personen und Einrichtungen unsrer Justiz, in der ich zunächst beschäftigt war, gaben meiner jugendlichen Auffassung mehr Stoff zur Kritik als zur Anerkennung. Die praktische Ausbildung des Auskultators begann damit, daß man auf dem Kriminalgericht das Protokoll zu führen hatte, wozu ich von dem Rat, dem ich zugewiesen war, Herrn von Brauchitsch, über die Gebühr herangezogen wurde, weil ich damals über den Durchschnitt schnell und lesbar schrieb. Von den »Untersuchungen«, wie die Kriminalprozesse bei dem damals geltenden Inquisitionsverfahren genannt wurden, hat mir eine den nachhaltigsten Eindruck hinterlassen, welche eine in Berlin weit verzweigte Verbindung zum Zweck der unnatürlichen Laster betraf. Die Klubeinrichtungen der Beteiligten, die Stammbücher, die gleichmachende Wirkung des gemeinschaftlichen Betreibens des Verbotenen durch alle Stände hindurch – alles das bewies schon 1835 eine Demoralisation, welche hinter den Ergebnissen des Prozesses gegen die Heinzeschen Eheleute (Oktober 1891) nicht zurückstand. Die Verzweigungen dieser Gesellschaft reichten bis in hohe Kreise hinauf. Es wurde dem Einflusse des Fürsten Wittgenstein zugeschrieben, daß die Akten von dem Justizministerium eingefordert und, wenigstens während meiner Tätigkeit an dem Kriminalgerichte, nicht zurückgegeben wurden.

Nachdem ich vier Monate protokolliert hatte, wurde ich zu dem Stadtgerichte, vor das die Zivilsachen gehörten, versetzt und aus der mechanischen Beschäftigung des Schreibens unter Diktat plötzlich zu einer selbständigen erhoben, der gegenüber meine Unerfahrenheit und mein Gefühl mir die Stellung erschwerten. Das erste Stadium, in welchem der juristische Neuling damals zu einer selbständigen Tätigkeit berufen wurde, waren nämlich die Ehescheidungen. Offenbar als das Unwichtigste betrachtet, waren sie dem unfähigsten Rat, Namens Prätorius, übertragen, und unter ihm der Bearbeitung der ganz grünen Auskultatoren überlassen worden, die damit in corpore vili*** ihre ersten Experimente in der Richterrolle zu machen hatten, allerdings unter nomineller Verantwortlichkeit des Herrn Prätorius, der jedoch ihren Verhandlungen nicht beiwohnte. Zur Charakterisierung dieses Herrn wurde uns jungen Leuten erzählt, daß er in den Sitzungen, wenn er wegen der Abstimmung aus einem leichten Schlummer geweckt, zu sagen pflegte: »Ich stimme wie der Kollege Tempelhof«, und gelegentlich darauf aufmerksam gemacht werden mußte, daß Herr Tempelhof nicht anwesend sei.

Ich trug ihm einmal meine Verlegenheit vor, daß ich, wenige Monate über 20 Jahre alt, mit einem aufgeregten Ehepaar den Sühneversuch vornehmen solle, der für meine Auffassung einen gewissen kirchlichen und sittlichen Nimbus hatte, dem ich mich in meiner Seelenstimmung nicht adäquat fühlte. Ich fand Prätorius in der verdrießlichen Stimmung eines zur Unzeit geweckten älteren Herrn, der außerdem die Abneigung mancher alten Bürokraten gegen einen jungen Edelmann hegte. Er sagte mit geringschätzigem Lächeln: »Es ist verdrießlich, Herr Referendar, wenn man sich auch nicht ein bißchen zu helfen weiß; ich werde Ihnen zeigen, wie man das macht.« Ich kehrte mit ihm in das Terminszimmer zurück. Der Fall lag so, daß der Mann geschieden sein wollte, die Frau nicht, der Mann sie des Ehebruchs beschuldigte, die Frau mit tränenreichen Deklamationen ihre Unschuld beteuerte und trotz aller Mißhandlung von Seiten des Mannes bei ihm bleiben wollte. Mit seinem lispelnden Zungenanschlagsprach Prätorius die Frau also an: »Aber Frau, seien sie doch nicht so dumm; was haben sie denn davon? Wenn Sie nach Hause kommen, schlägt Ihnen ihr Mann die Jacke voll, bis sie es nicht mehr aushalten können. Sage Sie doch einfach Ja, dann sind Sie mit dem Säufer kurzer Hand auseinander.« Darauf die Frau weinend und schreiend: »Ich bin eine ehrliche Frau, kann die Schande nicht auf mich nehmen, will nicht geschieden sein.« Nach mehrfacher Replik und Duplik in dieser Tonart wandte sich Prätorius zu mir mit den Worten: »Da sie nicht Vernunft annehmen will, so schreiben Sie, Herr Referendar,« und diktierte mir die Worte, die ich wegen des tiefen Eindrucks, welchen sie mir machten, noch heut auswendig weiß: »Nachdem der Sühneversuch angestellt und die dafür dem Gebiete der Moral und Religion entnommenen Gründe erfolglos geblieben waren, wurde wie folgt weiter verhandelt.« Mein Vorgesetzter erhob sich und sagte: »Nun merken Sie sich, wie man das macht, und lassen Sie mich künftig mit dergleichen in Ruhe.« Ich begleitete ihn zur Tür und setzte die Verhandlung fort. Die Station der Ehescheidungen dauerte, so viel ich mich erinnere, vier bis sechs Wochen, ein Sühneversuch kam mir nicht wieder vor. Es war ein gewisses Bedürfnis vorhanden für die Verordnung über das Verfahren in Ehescheidungen, auf welche Friedrich Wilhelm IV. sich beschränken mußte, nachdem sein Versuch, ein Gesetz über Änderung des materiellen Eherechts zu Stande zu bringen, an dem Widerstand des Staatsrats gescheitert war. Dabei mag erwähnt werden, daß durch jene Verordnung zuerst in den Provinzen des Allgemeinen Landrechts der Staatsanwalt eingeführt worden ist als rechtskunige Person und zur Verhütung von Kollusionen der Parteien.

Ansprechender war das folgende Stadium der Bagatellprozesse, wo der ungeschulte junge Jurist wenigstens eine Übung im Aufnehmen von Klagen und Vernehmen von Zeugen gewann, wo man ihn im Ganzen aber doch mehr als Hilfsarbeiter ausnutzte, als mit Belehrung förderte. Das Lokal und die Prozedur hatten etwas von dem unruhigen Verkehr an einem Eisenbahnschalter. Der Raum, wo der leitende Rat und die drei oder vier Auskultatoren mit dem Rücken gegen das Publikum saßen, war von hölzernen Gittern umgeben, und die dadurch gebildete viereckige Bucht war von der wechselnden und mehr oder weniger lärmenden Menge der Parteien rings umflutet.

Mein Eindruck von Institutionen und Personen wurde nicht wesentlich modifiziert, nachdem ich zur Verwaltung übergegangen war. Um den Umweg zur Diplomatie abzukürzen, wandte ich mich einer rheinischen Regierung, der Aachner, zu, deren Kursus sich in zwei Jahren abmachen ließ, während bei den altländischen wenigstens drei erforderlich waren.   

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