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Collection: Adam Heinrich Müller

Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland Teil 02

1779-1829, Adam Heinrich Müller

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Wie ist es denn mit jener Verwicklung der Herzen, die die schönsten und jugendlichsten Gefühle unserer Zeitgenossen an sich zu reißen pflegt? Hat dieses Spiel mit der heiligsten Flamme des Lebens, worin die Seele so leicht ihre Flügel versengt, so wie es alle Romane der Welt darstellen, seinen Reiz anderswoher als aus dem Geheimnis, das in diesem innigsten Gespräch über Frage und Antwort schwebt? In dem Verhältnis der Geschlechter zueinander, da wo die Natur die höchste Verschiedenartigkeit der Neigungen, der Ansichten, der bürgerlichen und sittlichen Eigenschaften angeordnet hat, wo sie am meisten mit sich selbst zu streiten, und sich selbst zu widersprechen scheint, zeigt sich das lebendigste und unwiderstehlichste Gefühl des für einander Bestimmtseins. Hier ist von beiden Seiten so viel Unerwartetes, Herausforderndes, Antwortendes, dass ein lebendiges Gespräch, der höchste Genuss des Lebens, erfolgen muss, und dass, wenn ein mündiges Talent diese Gespräche ans Licht bringt, sich alle Blüten der Beredsamkeit zeigen müssen! Diese tiefere dialogische Natur der Liebe gibt der Fiametta, der neuen Heloise, der Clarissa und dem Werther ihre Lebensfrische und ihren Glanz. 

Worin endlich liegt der Reiz und die Art von Genuss, die das Regieren, das Anordnen der Verhältnisse der Völker gewährt? Sicherlich nicht in der Nachgiebigkeit der Völker, in ihrer Unterwürfigkeit und mechanischen Abhängigkeit. Gewiss nicht darin, dass ein kalter, einsamer Herrschergedanke, in breiten Massen, in einem gigantischen Stoff ausgedrückt wird. Gewiss nicht darin, dass der Regent ein riesenhaftes Gespenst von sich selbst neben sich herwandeln und in der Außenwelt nichts sieht, als die kolossalen Schriftzüge seiner eignen Gedanken. Es ist das Antworten der Völker. Es ist das Geheimnis ihrer Eigentümlichkeit, es ist die Beredsamkeit ihrer Freiheit, die die große Seele reizt, sich mit ihren Geschäften und Sorgen zu befassen. Kurz, das Gespräch ist der erste aller Genüsse, weil es die Seele aller anderen Genüsse ist. Auf diese einfache Formel reduziert sich das ganze verschlungene Treiben unseres Lebens. Was uns in allen Geschäften des Lebens reizt, anspornt, erhebt, was wir aber dort erst zusammengreifen und in einen einzigen Körper zusammenbauen müssen, damit es wie mit einer Stimme uns antwortet, steht in dem lebendigen, freien Gespräch schon verkörpert als Freund und Gegner uns gegenüber. In der Brust des Freundes streiten alle feindseligen Mächte, die sich draußen im Feld und auf dem Forum nur begegnen können. Das Geheimnis eines einzigen Herzens ergründen heißt die Welt ergründen.

 

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