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Collection: Anekdote D

Der neue (glücklichere) Werther

1777-1811, Heinrich von Kleist

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In Frankreich war ein junger Kaufmannsdiener, der die Frau seines Herren, eines reichen, aber bejahrten Kaufmanns, heimlich liebte. Tugendhaft und rechtschaffen, wie er die Frau kannte, machte er nicht den geringsten Versuch, ihre Gegenliebe zu gewinnen. Umso weniger, da er durch manche Bande der Dankbarkeit und Ehrfurcht an seinen Herren gebunden war. Die Frau, die mit seinem Zustand, der seiner Gesundheit nachteilig zu werden drohte, Mitleid hatte, forderte ihren Mann, unter mancherlei Vorwand auf, ihn aus dem Haus zu entfernen. Der Mann schob eine Reise, zu der er ihn bestimmt hatte, von Tag zu Tag auf, und erklärte  schließlich, dass er ihn in seinem Kontor nicht entbehren könne. Einst machte der Kaufmann mit seiner Frau eine Reise zu einem Freund aufs Land. Er ließ den jungen Diener, um die Geschäfte zu führen, im Haus zurück. Abends, als schon alles schlief, machte sich der junge Mann, von Empfindungen getrieben, auf, um noch einen Spaziergang durch den Garten zu machen. Er kam am Schlafzimmer der geliebten Frau vorbei, er stand still, er legte die Hand an die Klinke und er öffnete die Tür. Das Herz schwoll ihm beim Anblick des Bettes, in dem sie zu ruhen pflegte und kurz, er begeht, nach manchen Kämpfen mit sich selbst, die Torheit, weil es doch niemand sieht und zieht sich aus und legt sich hinein. Nachts, als er schon mehrere Stunden, sanft und ruhig geschlafen hatte, kam, aus irgend einem besonderen Grund, der, hier anzugeben, gleichgültig ist, das Ehepaar unerwartet nach Hause zurück. Und da der alte Herr mit seiner Frau ins Schlafzimmer trat, finden sie den jungen Diener, der sich, von dem Geräusch, das sie verursachten, aufgeschreckt, im Bett erhebt. Scham und Verwirrung, bei diesem Anblick, ergreifen ihn. Und während das Ehepaar betroffen umkehrt und wieder ins Nebenzimmer, aus dem sie gekommen waren, verschwindet, steht er auf und zieht sich an. Er schleicht, seines Lebens müde, in sein Zimmer, schreibt einen kurzen Brief, in dem er den Vorfall erklärt, an die Frau und schießt sich mit einer Pistole, die an der Wand hängt, in die Brust. Hier scheint die Geschichte seines Lebens zu Ende zu sein. Doch sonderbar genug fängt sie hier erst an. Denn statt ihn, den Jüngling, zu töten, zog der Schuss dem alten Herrn, der sich im Nebenzimmer befand, den Schlagfluss zu. Er verschied wenige Stunden darauf, ohne dass die Kunst aller Ärzte, die man herbeigerufen hatte, imstande gewesen wäre, ihn zu retten. Fünf Tage danach, als der Kaufmann schon längst begraben war, erwachte der junge Diener, dem der Schuss, aber nicht lebensgefährlich, durch die Lunge gegangen war. Und wer beschreibt wohl, wie soll ich sagen, seinen Schmerz oder seine Freude? Als er erfuhr, was vorgefallen war und sich in den Armen der lieben Frau befand, um derentwillen er sich den Tod hatte geben wollen! Nach Verlauf eines Jahres heiratete ihn die Frau und beide lebten noch im Jahr 1801, wo ihre Familie bereits, wie ein Bekannter erzählt, aus 14 Kindern bestand.

 

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