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Collection: Adolf Stoltze

Weltstadtbilder Teil 02

1842-1933, Adolf Stoltze

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Erwin Holmer stand ans offene Fenster seines bescheidenen Stübchens gelehnt  und sah, an seinem Federhalter kauend, auf den asphaltierten Hof hinunter, der von einem Gewirr alter Hinterhäuser umschlossen war. Sonst herrschte dort reges Leben. Fröhliche Kinderscharen tummelten sich und wimmernde Töne eines verstimmten Leierkastens erfüllten die Luft. Heute aber lagerte Sabbatstille über dem weiten Raum und selbst die kümmerliche Linde, die in der Mitte des Hofes stand, schien in Schlummer versunken, denn kein Lüftchen bewegte ihre dürren Äste. Gelangweilt ließ Holmer seine Blicke auf die Fenster des Nachbarhauses schweifen, aber auch hinter denselben regte sich nichts. Die Mädchen, die dort an Werktagen in freier Assoziation ihr kärgliches Brot verdienten, waren ausgeflogen. Ein praktischer Sinn hatte diese, miteinander befreundeten Arbeitsbienen, vor Zeiten zur gemeinsamen Tätigkeit zusammengeführt und die Armut war der Kitt, der sie weiter verband. Keine von ihnen wäre in der Lage gewesen, sich die für ihren Beruf unentbehrliche Nähmaschine anzuschaffen und so waren sie auf den Gedanken gekommen, ein Zimmer mit dem nötigen Requisit zu mieten und nach dem Prinzip der Arbeitsteilung ihre Tätigkeit darin zu entfalten. Fräulein Emilie, gewissermaßen die Präsidentin der kleinen Republik und die Seele des Unternehmens, ihr vertraute die Konfektionsfabrik die zugeschnittenen Stoffe an und verrechnete mit ihr den Stücklohn. Was verdient wurde, teilten die fünf Mädchen getreulich unter sich auf und so gering auch die Summe war, die jeder zufiel, so reichte sie doch aus, sich halbwegs satt zu essen, einen kleinen Beitrag zu den elterlichen Haushaltungskosten zu leisten, oder für eine Schlafstelle. Wohlgemut verrichteten sie ihre Arbeit und wenn der Feierabend kam, eilten sie trotz Ermüdung und Abspannung lachend die Treppen hinunter, jede ihrem Verhältnis oder gutem Freund entgegen. Nur Fräulein Emilie war noch von einem Anhängsel frei, aber weniger aus Prüderie oder Schüchternheit, sondern weil sie wählerischer als ihre Kolleginnen war und eine Schwärmerei für Künstler und Schriftsteller, wie man sie sonst nur bei der sogenannten höheren Tochter findet, im Herzen trug.

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Weltstadtbilder, Berlin, Novelle, Adolf, Stoltze

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