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Sammlung: Satire D

Die Redensart

1890-1935, Kurt Tucholsky

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Bald fehlt uns der Wein,
bald fehlt uns der Becher.

                                                                                                           Hebbel

 

Ich kannte eine angesehene, stattliche Dame, die hatte die Gewohnheit, mit offenen Augen am Tag zu schlafen und niemals zuzuhören, wenn jemand mit ihr sprach. Die Leute erzählten ihr lange Geschichten, wie sie so die Leute erzählen: Ehescheidungsklatsch, Dienstbotennöte, Geldgeschichten, was weiß ich und sie schlief und hörte durchaus nicht zu. Wenn aber der andere zu erzählen aufgehört hatte und schwieg und eine teilnehmende Antwort erwartete, dann fuhr meine Dame auf und sagte ein Wort, »das« Wort ihres Lebens, eines, das sie stets sagte, nach jeder Geschichte und das auch zu allen passte: »Ja, ja! Etwas ist immer!«

Das war ihre Antwort und was darüber war, das war meist von Übel. Aber dieses Wort wird bleiben. Etwas ist wirklich immer. Arthur Schopenhauer hat ja das Glück als den unglücklosen Zustand definiert und damit das Malheur als das Primäre angesehen. Und von ihm stammte ja auch jener grandiose Ausspruch, er habe als Jüngling beim Klingeln der Türglocke empfunden: »Ah... jetzt, jetzt kommt es.« Und später, im Alter, wenn es an der Tür klopfte: »Jetzt, jetzt kommt es!« Und es kam immer etwas. Gäbe es keine Sorgen, man müsste man sie erfinden. Aber wir sind nie unbesorgt. Etwas ist immer. Hundegebell, gutes Essen, aber ein grober Kellner, höflicher Kellner, aber ein schrecklicher Fraß. Obermieter, die uns auf dem Kopf herumtrampeln, weil sie Flusskähne statt Schuhe tragen, unerwünschter Familienzuwachs, Konkurs, Weltkrieg und Verdauungsbeschwerden. Etwas ist immer. Aber wir sind mit daran schuld.

Unser Apparat ist viel zu groß. Kein Wunder, wenn immer irgendein Rad zerbrochen ist, eine Kette schleift, eine Schraube quietscht. Mit dem Aufwand, den wir heute betreiben, eine lange Reise zu tun, haben die Griechen früher ihre kleinen Kriege absolviert und Ruhe geben wir nie. Ich kann mir unsere Börsianer so richtig im Paradies, wenn sie in dasselbe kommen, vorstellen. Es zieht, das Eintrittsgeld war zu hoch, einen Kurszettel gibt es nicht und so haben sie es sich überhaupt nicht vorgestellt. Etwas ist immer. Es hat nie eine treffendere Redensart gegeben. Und wissen Sie, der ganze Spektakel hat eigentlich so wenig Sinn. Denken Sie sich, was wir in den letzten acht Jahren alle miteinander angegeben haben. Und was ist dabei herausgekommen? Dieses Europa. Etwas ist immer. Es ist ein bisschen viel für einen einzelnen Menschen. Und die Einwohnerschaft dieses Kontinents ist reichlich nervös geworden, so nervös, dass sie ordentlich danach sucht, wenn einmal nichts ist. Ärgerlich schweift der Blick umher, dass er etwas findet, was nicht stimmt. Denn bei uns ist etwas nicht in Ordnung, wenn alles in Ordnung ist und etwas ist immer. Und zum Kampf ist der Mann auf der Welt. Wie sagt der Filmregisseur? »Licht! Bewegung! Großaufnahme!« Glück ist der Zustand, den man nicht spürt, sagt der Weise.

Wo gibt es noch reine Freuden? Ich glaube nur noch in dem alleinseligmachenden Zustand, wo jener, glücklich lächelnd, in der Droschke saß und den Kutscher fragte, wieviel Uhr es sei. Und der Kutscher antwortete: »Elf Uhr, gnädiger Herr!« Und jener, im Vollbewusstsein der irdischen Seligkeit: »Gestern oder heute?« Siehe, das ist das Glück. Aber der hat am nächsten Morgen einen unfreundlichen Kater und muss büßen, dass er den Flug von der Erde versucht hat. Und kraucht wieder unten und etwas ist immer.

Wir aber sehnen uns. Nach jenem Zustand, der uns glücklich und leicht macht, nach jenem legendären kleinen weißen Häuschen, das ein Hort der Zufriedenheit sei und eine Ruhestätte vor allem Jammer. Dahin möchten wir so gern einmal.

Ich möchte heim, mich ziehts dem Vaterhaus,
dem Vaterherzen zu.
Fort aus der Welt verworrenem Gebraus
zur stillen, tiefen Ruh.
Mit tausend Wünschen bin ich ausgegangen,
heim kehr ich mit bescheidenem Verlangen.
Noch hegt mein Herz nur einer Hoffnung Keim:
Ich möchte heim.

Aber das Heim hat keine Zentralheizung, nebenan ist eine Lederfabrik mit übelduftendem Schornstein. Die Frau unserer Wahl ist dick geworden und der Sohn ist auch nicht so, wie wir ihn uns dachten. Zum Filmschauspieler zu hässlich, zum Bankier zu dumm und für einen bürgerlichen Beruf ungeeignet. Da sitzt du vor deinem Idealhäuschen, die Linden rauschen, der Bach murmelt, der Mond scheint. Und in deinem Herzen keimt eine leise, kleine Sehnsucht auf nach der großen Stadt, nach ihrem Lärm und nach ihrem Ärger. Ruft deine liebe Adelheid? Lass sie rufen. Aber sie ruft, lauter und nicht gerade melodiös. Und seufzend gehst du ins Haus. Und lass dir nichts erzählen von feinen Inschriften für deinen Grabstein. Ich habe eine für dich, wie nach Maß gearbeitet, verlass dich drauf, sie passt wundervoll. Schreib:

         Etwas ist immer.

 

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  • Text-Herkunft: Gemeinfrei
  • Text-ID 3150
  • Hinzugefügt am 12. Jan 2014 - 21:20 Uhr

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Verwandte Suchbegriffe

Etwas-ist-immer, Kurt-Tucholsky, Satire, Dame, Wort

Einsteller: sophie-clark

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