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Sammlung: Scholem Alejchem

Anatewka Teil 04

1859-1916, Scholem Alejchem

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Ich fahre eines Tages im Sommer durch den Wald. Ich fahre nach Hause, mit leerem Wagen. Ich halte den Kopf gesenkt und die Welt ist mir wüst und finster. Mein Pferdchen bewegt kaum die Beine, will nicht schneller laufen und wenn ich es auch totschlage. »Lass dich«, sage ich, »zusammen mit mir begraben! Auch du sollst einmal wissen, was ein Fastentag an einem langen Sommertag bedeutet, wenn du schon einmal bei Tewje als Pferd angestellt bist!« Ringsumher ist es still, jeder Peitschenknall hallt im Wald wider. Die Sonne geht gerade unter, der Tag liegt in den letzten Zügen. Die Schatten der Bäume werden so lang wie der jüdische Golus. Es wird dunkel und trübe Gedanken ziehen mir durch den Kopf. Gestalten längst verstorbener Menschen tauchen vor mir auf und gemahnen mich an mein Heim. Ach und weh ist mir! In der Stube ist es finster und meine Kinder, gesund sollen sie sein, sind nackt und barfuß und schauen nach ihrem unglücklichen Vater aus, ob er ihnen vielleicht ein frisches Brot mitbringt oder gar eine Semmel. Und sie, meine Alte, murrt wie eine Frau eben murren kann: »Kinder muss ich dir gebären und gleich sieben Stück! Gott möge mich für die sündigen Worte nicht strafen, aber erwürge deine Kinder oder wirf sie in den Fluss!« Was glaubt Ihr, ist es angenehm, solche Worte zu hören? Man ist aber doch nur ein Mensch, ein Geschöpf aus Fleisch und Blut! Mit Worten kann man sich den Magen nicht vollstopfen und wenn ich ein Stück Hering heruntergewürgt habe, will ich gerne einen Schluck Tee trinken. Und zum Tee braucht man ein Stück Zucker und den Zucker hat Brodskij und nicht ich. »Ohne Brot«, pflegt meine Frau, sie soll leben, zu sagen, »kann ich noch auskommen und mein Magen kann das verzeihen. Doch ohne Tee«, sagt sie, »bin ich am Morgen wie tot, denn das Kind«, sagt sie, »saugt aus mir in der Nacht alle Kräfte heraus!« Und man ist doch ein Jude und muss das Abendgebet verrichten. Das Gebet ist zwar, wie man sagt, keine Ziege und läuft einem nicht davon, aber beten muss man doch. Stellt Euch aber vor, was das für ein schönes Beten ist. Gerade als ich mich hinstelle, um das Gebet der Achtzehn Segenssprüche zu sprechen, brennt mir der Gaul, wohl vom Satan angestiftet, durch und ich muss fest die Zügel anziehen und dabei singen: ›Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs!‹ Es ist wirklich ein schönes Beten! Und ich habe ausgerechnet an diesem Abend Lust, mit besonderer Inbrunst und recht schön zu beten, denn es scheint mir, dass das Gebet mir das Herz erleichtert.

 

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  • Text-Herkunft: Gemeinfrei
  • Text-ID 9508
  • Hinzugefügt am 04. Jan 2023 - 16:51 Uhr

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Verwandte Suchbegriffe

Eines-Tages, im-Sommer, schneller-laufen, ein-langer-Sommertag, frisches, Brot

Einsteller: sophie-clark

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